„In Europa sind die Grenzen wieder da“

Von Vilja Schiretz

Barbara Steiner leitet seit 2016 das Kunsthaus Graz, das aufgrund der Pandemie noch bis 1. Juli geschlossen bleiben muss. Ein Gespräch über die Nöte von KünstlerInnen, die „Hausaufgaben“, die Michikazu Matsune den BesucherInnen seiner Online-Performance gibt, und über die Spuren der Krise in unserer Gesellschaft.

Barbara Steiner studierte Kunstgeschichte an der Universität Wien, absolvierte ein Post-Graduate-Studium für Museums- und Ausstellungskuratoren an der Landesakademie für Niederösterreich in Krems, und leitet seit 2016 das Grazer Kunsthaus. Ebenso wie die übrigen Häuser des Universalmuseums Joanneum wird das Kunsthaus erst am 1. Juli wieder für die Öffentlichkeit zugänglich sein – und damit einen guten Monat später als die Bundesmuseen, die bereits Ende Mai wiedereröffneten.

Haben Sie die Regierungsmaßnahmen, die den Kulturbetrieb in der Corona-Zeit betroffen haben, für angemessen gehalten?

Ja, aber ich finde es sehr gut, dass es inzwischen einen Diskurs darüber gibt. Was bedeutet es, wenn öffentliche Museen sich fragen, ob es sich überhaupt lohnt aufzusperren, weil TouristInnen fehlen? Da tauchen interessante Fragen auf: Für wen ist das Museum da? Die öffentliche Debatte darüber ist wichtig. Bis jetzt hatte ich den Eindruck, dass die Kultur in den Diskussionen ein stiefmütterliches Dasein führte. Man hört mehr darüber, wann die Shoppingcenter wieder aufsperren. Ich sehe hier eine wirtschaftliche Priorisierung, der Kulturbereich wird momentan als Accessoire gesehen – als potentiell verzichtbar. Natürlich ist die Wirtschaft existenziell, aber das ist auch die Zugänglichkeit von Kunst. Bei uns haben die Eigentümer, also das Land Steiermark und die Stadt Graz, die Entscheidung getroffen, dass wir erst wieder im Juli aufsperren.

Werden KünstlerInnen angemessen unterstützt, die jetzt keine Möglichkeit haben, aufzutreten oder ihre Werke auszustellen?

Im Moment funktioniert das. Was aber auf uns zukommt, sieht gar nicht gut aus. Was bedeutet das für die vielen freiberuflichen KünstlerInnen und die kleinen Institutionen? Werden sie verschwinden, weil sie nicht mehr entsprechend Förderung finden? Das wäre eine Katastrophe. Es liegt an uns allen, das zu verhindern. Das sind politische Fragen und wenn ich mir die derzeitige Priorisierung ansehe, wird es die Kultur schwer haben.

Momentan weicht die Kultur sehr stark ins Internet aus. Ich habe mir auch die für das Kunsthaus realisierte Arbeit Performance Homework von Michikazu Matsune angeschaut. Wie kam es zu der Idee, dem Publikum “Hausaufgabe” zu geben?

Wir haben gemerkt, dass die meisten Museen ihre Aktivitäten in den virtuellen Raum verlegen. Man kann zum Beispiel virtuelle Museumsrundgänge machen. Für uns war das nicht der richtige Weg. Kunstkritiker Jörg Heiser sagte dazu ziemlich passend: „Statt ins Restaurant zu gehen, schaue ich mir ja auch nicht Bilder von schön gekochtem Essen an.“ Es lässt sich einfach nicht alles virtualisieren. Der virtuelle Raum steht nicht in Konkurrenz zum physischen Raum, sondern erweitert ihn. Viele KünstlerInnen setzen diese Räume auch in Relation zueinander. Michikazus digitales Projekt verbindet die physischen Räume der Menschen. Er spricht uns zuhause an und fordert uns auf, uns zu beteiligen. Wenn sich die Zeiten wieder ändern, möchte er ein Apartment mieten und Menschen einladen, diese Performances dort vor Publikum zu machen.

Glauben Sie, werden die Menschen es dann mehr zu schätzen wissen, wieder in ein Museum gehen zu können?

Bei mir war es so! Ich bin derzeit in Leipzig, wo die Ausstellung „Kunst Handwerk“ aufgebaut wird, die vorher in Graz war. Ich hatte die Gelegenheit, mit der Direktorin in eine schon fertige Ausstellung zu gehen, und das war großartig. Es war eine tolle Erfahrung, wieder in dieser direkten Begegnung mit der Kunst zu sein. Die meisten Werke lassen sich nicht einfach digitalisieren, zumindest nicht ohne Verlust! Außerdem ist ein Museumsbesuch eine soziale Erfahrung. Selbst wenn ich nicht mit anderen spreche, macht ihre Anwesenheit schon einen Unterschied. Ich befürchte aber, dass manche die physische Begegnung mit Kunst nicht vermissen. Oder besser gesagt: vorerst nicht vermissen. Doch wenn das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft fehlt, entsteht ein enormer Schaden. Ich denke, das wird in den gegenwärtigen Debatten unterschätzt.

Glauben Sie, werden KünstlerInnen diese Ausnahmesituation in ihren Werken verarbeiten?

Ja, es wird sicher eine Auseinandersetzung geben, aber sie wird sicher nicht immer so buchstäblich, so illustrativ sein. Das würde die Möglichkeiten der Kunst unterschätzen. KünstlerInnen werden größere Fragen damit verbinden: Auswirkungen auf die Gesellschaft, Renationalisierung, autoritäre Strukturen.

Was haben Sie persönlich aus dieser Krise gelernt?

Ich frage mich auch, wie ich auf alles, was ich jetzt beobachte, reagieren soll. Was müssen wir gegen einen Bedeutungsverlust der Kunst und im Speziellen der zeitgenössischen Kunst tun? Wie können wir KünstlerInnen monetär unterstützen, sodass sie Aufträge von uns bekommen? Außerdem beschäftigt mich die Frage: Wer trifft welche Entscheidungen?

Wenn man fünf oder zehn Jahre in die Zukunft blickt, welche Spuren hinterlässt diese einschneidende Zeit?

Das kann wirklich niemand seriös sagen, außer, dass sich enorm viel verändert haben wird. Nicht im Sinne von „Schnitt!“, Corona hat begonnen und alles ist anders. Was sich jetzt verstärkt, war vorher schon da, beispielsweise die Digitalisierung der Arbeitswelten und der Lehre. Auch demokratiepolitische Fragen werden wichtiger. Wir brauchen uns nur gegenwärtige Abschottungstendenzen ansehen: In Europa sind die Grenzen wieder da, die Wiener dürfen nicht mehr an den Neusiedlersee. Wir werden uns fragen müssen: Ist das der richtige Weg?

Sie können sich nicht vorstellen, dass wir nach der Krise so weiterleben wie bisher?

Nein. Aber auch nicht komplett anders, die Menschen haben Sehnsucht nach Vertrautem. Das kann zu Enttäuschungen führen. Ein für mich noch negativeres Szenario wäre folgendes: Dass die Menschen im Glauben gehalten werden, alles sei wie früher, aber dass hinter den Kulissen die Welt bereits umgebaut wird. Wieder stellt sich die Frage: Wer trifft welche Entscheidungen und wie wird darüber mit wem verhandelt?

23. April 2020