„Psychische Störungen werden zunehmen“

Von Nina Gyger

Der Psychotherapeut und Sozialarbeiter Josef Schörghofer über den Verlust alter Sicherheiten, darüber, warum uns körperliches Abstandhalten so schwer fällt und warum es nicht schaden kann, die gegenwärtige Krise zunächst wieder zu vergessen.

In einem Beitrag im Business Insider schrieb der Sozialpsychologe Arie W. Kruglanski, Professor an der Universität in Maryland, zu den gesellschaftlichen Auswirkungen von Coronas: „Die Pandemie beeinflusst unsere Psyche auf drei Arten: Sie beeinflusst, wie wir denken, wie wir uns mit anderen verbunden fühlen und welche Werte wir haben.“ Josef Schörghofer, der als Psychotherapeut und Sozialarbeiter beim Psychosozialen Dienst Wien beschäftigt ist, teilt im Gespräch diese Aussagen.

Herr Schörghofer, glauben Sie, dass die Pandemie wirklich unser Denken verändert?

Unserer Gesellschaft ging prinzipiell von einem Denken der Sicherheit, der Gewissheit aus – wir fühlten uns nicht bedroht. Das zeigt sich beispielsweise anhand der niedrigen Grippeimpfungen. Jetzt müssen wir lernen, damit umzugehen, dass uns doch etwas passieren kann. Wir stellen uns die Fragen „Womit können, müssen wir rechnen?“ Diese neue Unsicherheit zu bewirtschaften, fordert natürlich jeden einzelnen Menschen sehr stark heraus.

Was die Verbundenheit angeht: Haben Sie das Gefühl, dass uns der körperliche Abstand, das “Social Distancing” mental wieder näherbringt?

Ich sehe das binär, im Sinne von „sowohl als auch“. Ich erlebe privat, aber auch beruflich, einerseits eine stärkere Solidaritätstendenz, ein „Aufeinander-Schauen“ – und gleichzeitig stärkere Egoismen. Wenn ich selbst existentiell abgesichert bin, kann ich mich um andere kümmern, weil ich genügend Ressourcen übrig habe. Wenn mir das Wasser aber bis zum Hals steht, stehe ich mir selbst am nächsten. Deshalb würde ich jene, die nur auf sich schauen, nicht moralisch bewerten, sondern sagen „Sie sind selbst in einer bedrohten Lage, deshalb reagieren sie so.“ Jeder gibt, soviel einem selbst möglich ist.

Warum fällt uns dieses körperliche Abstandhalten grundsätzlich schwer? Dank Handy und Internet ist es mittlerweile einfach, in Kontakt zu bleiben, auch ohne sich persönlich zu treffen.

Thema Entwicklungspsychologie: Was sagt unser Instinkt? Das Grundbedürfnis des Menschen ist Berührung. Dieses Bedürfnis begleitet uns ein Leben lang. Unsere Gesundheit wird immer dann gestärkt, wenn wir berührt werden, menschlichen Kontakt haben. Sich nur zu hören oder über einen Bildschirm zu sehen, macht aber einen qualitativen Unterschied. Natürlich führe ich Skype-Gespräche mit meinem Sohn, meiner Schwiegertochter und den Enkelkindern. Das ersetzt aber nicht, zusammen in unserem Garten spielen zu können. Social Distancing macht etwas mit uns, Isolation kann gleich gefährlich sein wie das Virus selbst. Vor allem für Risikogruppen – nicht umsonst suchte man in Pflegeheimen nach Lösungen, Kontakt zu Angehörigen herstellen zu können. Digital werden allerdings keine oder nur wenige Hormone ausgeschüttet. Genaues wissen wir noch nicht, das wird aber in der Forschung interessant werden.

Bezüglich Körperkontakt: Glauben Sie, dass sich die Art und Weise verändern wird, wie wir nach der Corona-Zeit miteinander umgehen werden?

Wir sind eine mittelmäßige Kultur der Körperlichkeit. Das heißt, wir werden jetzt lernen, uns zu disziplinieren und Umarmungen hintanzustellen. Social Distancing wird die kulturellen Spielregeln aber nicht generell verändern, auch wenn das jetzt noch zwei Jahre dauern sollte. Danach wird es sicher ein Zurückkehren ins kulturelle Schema geben.

Um noch auf den letzten Teil des Zitats einzugehen: Inwiefern glauben Sie, dass die Pandemie Einfluss auf die Werte der Menschen hat?

Schwierige Frage. Ich glaube, dass der Erste und Zweite Weltkrieg, die Shoah, die Studentenbewegung, jetzt auch die Umweltbewegung durchaus Einfluss auf Werte hatten und haben. Dass längerfristige Phänomene dominante Auswirkungen auf Werte haben. Die Frage ist: Wie lange wird uns Covid-19 begleiten? Wenn es in einigen Monaten halbwegs weg ist, rechne ich nicht mit großen Änderungen. Sollte uns das Thema bis ins Jahr 2021 beschäftigen, könnte es im Hinblick auf Werte doch etwas aussagen. Wenn es um die Bewertung der Berufsgruppen geht: Ich gehe nicht davon aus, dass Pflegepersonal oder MitarbeiterInnen im Sozial- und Gesundheitsbereich künftig mehr Lohn bekommen werden. Ich bezweifle auch, dass die GewinnerInnen die sein werden, die im Supermarkt hinter der Kassa stehen. Doch was sicher ist: Pandemien bleiben ein Thema der Zukunft. Diesbezüglich wird man sich auch mit Ressourcen beschäftigen: Was brauchen wir lokal, was national und was EU-weit? Können wir uns wirklich darauf verlassen, permanent Medikamente aus Indien oder China zu bekommen? Und ganz im Anschluss wird man sich fragen: Was muss zuerst kommen – Gesundheit oder das Aufrechterhalten der Wirtschaft?

Haben Sie das Gefühl, dass uns diese Zeit die Möglichkeit gibt, unsere Gesellschaft neu zu formen?

Ich tendiere eher zur Hypothese, dass wir sagen werden: „Gott sei Dank ist es vorbei, denken wir nicht darüber nach.“ Gesellschaftspolitisch bedauerlich, aber psychosozial würde ich das begrüßen. Im psychosozialen Bereich geht man davon aus, dass die psychiatrischen und psychischen Störungen nach Corona zunehmen werden. Direkt in einer Krise funktionieren viele Menschen gut, manche sogar besser als sonst. Wenn wir uns sofort auf „Was haben wir daraus gelernt? Was sollen wir ändern?“ fixieren, würde sich die Anzahl der Menschen mit psychiatrischen Störungen paradoxerweise erhöhen. Verdrängen und Vergessen ist ein gesunder gesellschaftlicher Mechanismus. Um wirklich verändern zu können, braucht es zuerst Distanz.

23. April 2020