“Erinnern wir uns an das Gute dieser Zeit“

Von Simone Hauser

Nach der Krise ist vor der Krise. Daniela Bauer, Leiterin der Telefonseelsorge Graz, wünscht sich, dass Menschen nicht nur in der akuten Krisensituation, sondern auch danach noch geholfen wird.

Die Kriseninterventionsteams des Landes, die Versicherungs-Hotlines oder die Telefonseelsorge hören derzeit sehr intensiv zu, was die ÖsterreicherInnen bewegt. Daniela Bauer leitet die Telefonseelsorge Graz, die es nicht erst seit Corona sondern schon seit 1975 gibt. Damals wurde sie von MitarbeiterInnen der katholischen und evangelischen Kirchen gegründet, heute bieten unter der Telefonnummer 142 mehr als 100 Ehrenamtliche, unterstützt von einigen Angestellten, eine besondere Form vertraulicher Lebenshilfe an.

Wie viele Menschen wählen zurzeit die 142?

Sehr viele, die uns davor noch nicht aufgesucht haben. Wir haben derzeit circa 35 Prozent mehr Gespräche und sprechen mit ungefähr 60 Menschen am Tag. Man muss wissen: Wir sind kein Callcenter, wo ein Gespräch nur zwei Minuten dauern darf. Wenn das Gespräch eine halbe Stunde dauert, dann dauert es eine halbe Stunde. In erster Linie geht es immer darum, für die Menschen da zu sein und Zeit zu haben. Die Menschen sollen sich in dieser unsicheren Zeit in Einem sicher sein können: Wir sind rund um die Uhr da.

Wer ist besonders herausgefordert in dieser Situation?

Menschen, die sowieso schon in einer schwierigen und engen Lebenssituation sind. Diese Enge kann durch eine Krankheit bedingt sein, räumlich bedingt, oder einfach durch Einsamkeit. Was noch dazukommt, ist die Sorge um andere. Viele Menschen rufen an, weil sie sich um ihre kranken, alten Eltern Sorgen machen, weil sie sich um die Kinder, die irgendwo sind und die sie nicht sehen können, Sorgen machen. Die Sorge um das eigene Wohl tritt manchmal sogar nach hinten. Was auch ein schöner Zug ist: Das Menschsein kommt zutage.

Welche Erzählung während dieser Zeit ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Besonders berührt mich, wenn jemand nicht Abschied nehmen konnte. Wenn das Begräbnis nicht so gelaufen ist, wie man es sich vorgestellt hat. Wenn man in der schweren Not nicht bei den anderen sein kann, das geht einem am meisten ans Herz. Da kommt man schon zum Eigentlichen, dass wir einander brauchen. Sich noch einmal zu berühren, sich das letzte Mal berühren zu können.

Nehmen Depressionen und Suizide derzeit zu?

Ich kann nicht sagen, dass ich das verzeichne. Wo wir gut hinschauen müssen, ist die Zeit danach. Jetzt gibt es unglaublich viele Hotlines und das ist toll. Ich sehe da keine Konkurrenz. Wir spinnen ein möglichst dichtes Netzwerk für Menschen, die uns jetzt brauchen. Das lassen wir ja nicht danach abreißen. Wir sitzen jetzt alle im gleichen Boot. Aber was ist danach, wenn der mit seinem großen Garten wieder ganz normal arbeiten geht und alles zu blühen und gedeihen anfängt, beim Anderen aber nur die Mindestsicherung bleibt? Ich wünsche es mir, aber ich glaube nicht, dass alle, die jetzt in Kurzarbeit oder arbeitslos sind, gleich wieder eingegliedert werden. Für die müssen wir da sein. Hier ist unser Job: Auf wen kann ich mich verlassen? Die Hotline, die eine Versicherung schnell hochgezogen hat, wird es danach nicht mehr geben. Ich weiß, dass wir danach genauso für die Menschen da sind.

Haben Sie das Gefühl, dass sich unsere Gesellschaft in Richtung Solidarität und Nächstenliebe wandelt oder eher in Richtung Angst und Egoismus?

Jede Krise verstärkt gewisse Züge, die wir schon haben. Ein egoistischer Mensch ist jetzt genauso egoistisch wie vorher, wird es nachher vielleicht sogar noch mehr sein. Es gibt genau einen Punkt: Was wird es danach geben? Jetzt singen wir am Balkon oder kaufen für andere ein. Was wir uns davon hinüberretten, wird maßgeblich dafür sein, wie wir miteinander weitertun. Was ich schon wahrnehme, sind Freundlichkeiten, die ausgetauscht werden. Da ist etwas entstanden. Zu spüren, dass jemand seine Liebsten vermisst, dass wir eigentlich alle gleich sind. Dieses Brauchen, dieses Lächeln, dieser Zusammenhalt. Das müssen wir weiter pflegen.

Glauben Sie, haben die Menschen nach Corona mehr Ängste oder werden Sie situationsflexibler sein? Wird sich was ändern?

Ich glaube, es wird eine besser lernende Gesellschaft werden. Das geht bis in die Politik und Wirtschaft. Hier werden sich Prioritäten verschieben, man wird Gelder für etwas anderes ausgeben, für Forschung oder Medizin. Wenn ein bisschen was von dem Brotbacken und Nähen bleibt, würde mir das gefallen. Wir hören das auch am Telefon, die Menschen merken: „Ich kann ja viel mehr, als nur auf meine Rente, Mindestsicherung oder Notstandshilfe zu warten.“ Wir sollten uns fragen: Was tut mir gut? Was brauche ich? Welche Fähigkeiten haben wir? Darüber haben jetzt mehr Leute nachgedacht. Wir wissen aber auch, dass der Mensch vergisst. Was ja gut ist. Denn wollen wir uns immer daran erinnern, wie traurig wir waren, dass wir unsere Lieben nicht gesehen haben? Wer aber hält uns die Erinnerungen wie aufrecht? Das können, glaube ich, nur gemeinnützige Einrichtungen sein. Schauen wir, dass wir nicht alles danach vergessen und uns erinnern, was das Gute daran war.

Und wie geht es Ihnen selbst?

Das traue ich mich jetzt fast gar nicht sagen: Ich erlebe vieles als sehr befreiend. Dass ein paar Termine nicht zustande gekommen sind, stört mich nicht. Ich bin mit diesen Leuten trotzdem in Kontakt und wir haben die Telefonseelsorge sogar besser medial untergebracht als davor. Wie fokussiert man jetzt arbeitet, das ist schon etwas Feines, ja. Ich habe ein Haus und ich sehe jetzt, während wir telefonieren, dass die Blüten meines Flieders morgen wahrscheinlich ganz aufspringen. Mir ist bewusst, dass das ein Privileg ist.

21. April 2020