Von Jasmin Hebenstreit
Der Gesundheitsökonom Dr. Ernest Pichlbauer über die Fehler der Bundesregierung in der Corona-Krise und warum er fürchtet, dass sich unser Gesundheitsbewusstsein nicht nachhaltig verändern wird.
Der Wiener Gesundheitsökonom Ernest G. Pichlbauer gilt als streitbarer Mann, der sich auch nicht scheut, bisweilen unangenehme Fragen zu stellen. In der Wiener Zeitung diskutierte der studierte Mediziner zuletzt etwa, ob es wirklich ethisch sei, in einer Krise wie der Corona-Pandemie die Freiheiten des einen einzuschränken, um das Leben des anderen zu verlängern. Pichlbauer war jahrelang im Gesundheitswesen aktiv, seit zehn Jahren ist er vorwiegend als selbstständiger Gesundheitspublizist tätig, kommentiert Aktuelles auf seinem “Rezeptblog”, hält Vorträge, und ist als strategischer Berater tätig.
Wie haben Sie als Gesundheitsökonom die Corona-Krise erlebt?
Am Anfang war ich verwirrt, genauso wie wahrscheinlich alle anderen auch. Ich war eigentlich begeistert von der beruhigenden Wirkung der Regierung und dass sie uns eine heftige Freiheitsentziehung so kommuniziert hat, dass wir sie auch alle akzeptiert haben. Aber gegen Ende März sind dann doch immer mehr Zweifel für mich entstanden, ob die Entscheidungen der Regierung auch evidenzbasiert sind. Evidenzbasierung ist nie eingetreten und seitdem bin ich eher irritiert.
Gab es in den letzten Wochen einen Zeitpunkt, an dem sie gedacht haben, das geht sich nicht aus?
Alles, was wir wussten, hat dazu geführt, dass ich der festen Überzeugung war, dass wir durchkommen werden. Mittlerweile ist es Allgemeinwissen, wie viele Intensivbetten wir mehr haben als der Rest der Welt. Als diese Krise begonnen hat, war klar, dass die kritische Infrastruktur Beatmungsplätze sind. Aus der Vergangenheit war bekannt, dass wir genügend haben. Enttäuscht war ich aber von der Regierung, weil sie so wenig Infektionen wie möglich haben wollte. Das war nie das Ziel. Es geht immer nur um die kritische Infrastruktur – man kann dieses Virus nicht aus der Welt schaffen.
Welche Fehler sind Ihnen im Gesundheitsbereich während der Corona-Krise aufgefallen?
Am Anfang habe ich sehr früh bemerkt, dass offensichtlich keine epidemiologischen Modelle bestehen. Krass war es, als dieses Expertenpapier die Basis weitreichender Entscheidungen war. Als Nicht-Epidemiologe konnte ich feststellen, dass das hinten und vorne nicht stimmen kann. Spätestens dann habe ich gewusst, dass die Regierung dilettantisch vorgeht. Sie erkennt offenbar nicht, dass eine Pandemie Epidemiologen braucht und diese nicht auf Bäumen wachsen. Wenn man keine hat, muss man sie virtuell zusammenstellen. Dazu braucht man aber eine klare Führung. Public-Health-Experten, Virologen und Mathematiker müssen dabei eng zusammenarbeiten, was nicht leicht ist. Aber es ginge.
Sollte es Ihrer Meinung nach Veränderungen in der Ausbildung des Pflegepersonals beziehungsweise der ÄrztInnen geben?
Ich glaube nicht, dass man eine zusätzliche Ausbildungsschiene für Epidemien braucht. Einführen könnte man natürlich eine. Was wir sicher brauchen sind aber jene Epidemiologen, die, wenn so etwas eintritt, auch klar sagen können, wie es weiter geht. Die nächste Pandemie wird sicher kommen. Sie wird uns immer wieder treffen, weil es einfach so ist. Je enger wir zusammenleben, desto sicherer sind Pandemien.
Wird Resilienz möglicherweise in Zukunft eine größere Rolle spielen?
Da bin ich skeptisch. Ich glaube nicht, dass die Bevölkerung genug Gesundheitskompetenz hat, um zu begreifen, was hier abläuft. Wir haben kein System, um den Leuten Health Literacy beizubringen. Sobald die Obrigkeit Entwarnung gibt, wird alles in den alten Modus zurückfallen. Ich glaube nicht, dass das irgendwie nachhaltig ist. Man sieht das schon bei jenen Patienten, die persönlich hart betroffen sind: den Diabetikern. Ein Diabetiker ändert sein Leben nicht – egal, wieviel du ihm von seinem Bein abschneidest, er bleibt weiter bei seinem Schnitzel und Bier. Er lernt nicht dazu, dass er sich mehr bewegen muss, sondern er geht davon aus, dass das beste Gesundheitssystem der Welt ihn retten werde. Deswegen glaube ich, dass sich alles rauswachsen wird und die Lage nach sechs Monaten ohne den Obrigkeitsdruck wieder wie früher ist.
Denken Sie, dass die Corona-Krise Auswirkungen auf Veränderungen in unserem Gesundheitssystem haben wird?
Leider zeigt das Gesundheitssystem momentan gute Ergebnisse, weil es so unglaublich spitalslastig ist. Das heißt, wir haben nie eine Überlastung des Systems erlebt, sondern eine Unterlastung. Im Endeffekt wird es heißen, dass wir alles wegen unseres Systems gut überstanden haben und deswegen darf sich daran nichts ändern. Das finde ich ziemlich gruselig, weil genau diese Defizite, die wir in unserem System haben, eigentlich offensichtlich werden. Wir haben drei Wochen gebraucht, um die Risikogruppen zu identifizieren. Idealerweise wären all diese Gruppen, die allgemein bekannt sind, per Knopfdruck abrufbar, wenn wir Behandlungsregister hätten. Es wäre schön, wenn sich da etwas verändern würde und für die nächste Pandemie ausreichend Informationen über die Patientengruppen mit chronischen Erkrankungen vorhanden sind. Ich fürchte, dass da nichts passieren wird, sondern sich unter dem Aspekt „Wir haben das beste Gesundheitssystem, wir haben die Krise am besten überwunden“ nichts ändert. Mehr noch – alle Spitalsreformen werden vermutlich der Geschichte angehören.
23. April 2020