”Die Hilfsbereitschaft verflacht sehr schnell”

Von Verena Schinnerl

Solidarität wird zu Zeiten von Corona neu entdeckt. Aber der Grazer “Armenpfarrer“ Wolfgang Pucher hat seine Zweifel, dass die neue Hilfsbereitschaft nachhaltig ist.

Seit 2005 engagiert sich der gebürtige Grazer und Gründer der Vinzenzgemeinschaft Eggenberg sowie der mittlerweile 40 VinziWerke für Menschen in Armut. Ein besonderes Anliegen sind ihm die Roma aus der Slowakei oder Rumänien, die als BettlerInnen nach Graz kommen. Pucher hat in der Krisenzeit Online-Spendenkampagnen gestartet und schon am 16. März begonnen, Gottesdienste über Facebook und Twitch zu streamen. Vor dem Palmsonntag hat er sogar Palmzweige – samt Weihwasser und Segensgebeten – vor dem Altar der Vinzenz-Kirche hinterlegt, die man abholen und während einer Online-Messe selbst segnen konnte.

Es ist gerade viel die Rede davon, dass sich die Welt durch die Corona-Pandemie nachhaltig wandelt. Inwiefern ist davon auch die Armut in Österreich betroffen?

Die Menschengruppen, für die ich mich einsetze, sind die Schwächsten und die Ärmsten. Bei ihnen spielen die Umstände durch Corona fast keine Rolle. Sie waren schon vorher arm und sind es jetzt natürlich genauso. Es gibt grob betrachtet zwei Arten von Armut: Die eine ist die, die zu Herzen geht. Ich nenne sie die schöne Armut. Die andere ist die Armut, die abstoßend ist und kein Mitgefühl weckt. Das ist die hässliche Armut. Ich kümmere mich ausschließlich um die hässliche Armut, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt und nicht als unterstützungswürdig angesehen wird. Daran hat sich durch Corona nichts verändert. Diese Menschen waren vorher von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft ausgeschlossen und sind es nach wie vor.

Befürchten Sie, dass die Krise das Wegschauen vielleicht sogar verstärkt, weil die Menschen in dieser Situation sehen, wie schnell sie selbst an Lebensqualität verlieren können?

Das ist eine Theorie, die ich immer wieder höre. Ich selbst kann sie nicht nachvollziehen, denn die Gründe, warum jemand einem Armen helfen möchte oder nicht, sind individuell. Die jetzige Situation ist neu, weltweit noch nie da gewesen. Sie verändert die Grundhaltung der Menschen meiner Meinung nach aber nicht. Sie sind zwar eher bereit, jenen gegenüber, für die sie schon immer etwas übrig gehabt haben, jetzt erst recht offen und hilfsbereit zu sein. Das betrifft die Gruppen von Menschen, die ich eigentlich als die Ärmsten bezeichnen möchte, aber gar nicht.

Führt die Krise Ihrer Meinung nach zu einem gesellschaftlichen Wandel?

Da gibt es zwei Anschauungen. Die einen sagen, die Krise hätte die Menschheit tiefgreifend verändert und die Zeit nach Corona würde nicht mehr dieselbe sein. Die anderen sagen, ein wichtiger Punkt sei die Vergesslichkeit. Denken wir nur daran, was in der Flüchtlingskrise passiert ist. Zu Beginn der Krise ist große Hilfsbereitschaft ausgebrochen. Unglaublich viele Menschen haben sich bemüßigt gefühlt, etwas zu unternehmen. Kaum war das Ganze ein Dauerzustand, ist diese Bereitschaft immer kleiner geworden. Der Mensch neigt in seiner Weise dazu, den bequemeren Weg zu gehen. Wenn etwas zu lange dauert und zu anstrengend ist, verflacht die Hilfsbereitschaft sehr schnell.

Laut Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich, wird in Zeiten von Corona Solidarität neu entdeckt. Sehen Sie das auch so?

Im Augenblick: Ja. Menschen helfen der alten Nachbarin, sodass sie zu ihren Lebensmitteln kommt. Das ist in einer sehr starken Weise sichtbar geworden. Aber dieselbe alte Frau ist immer noch alleine oder einsam, auch wenn Corona keine Einschränkungen mehr erzwingt. Der eine oder andere bleibt dabei, zu helfen, aber die Mehrheit wird das nicht tun.

Warum befürchten Sie, dass diese Hilfsbereitschaft verflachen wird?

Der Augenblick, in dem das Gefühl, helfen zu müssen, bemerkenswert ausgebrochen ist, hält nicht an. In einer außergewöhnlichen Situation bleibt die Bereitschaft, Außergewöhnliches zu tun, nur so lange, wie diese Situation für alle Beteiligten bedrängend ist. Wenn sie nicht mehr bedrängend ist, verflacht die Hilfsbereitschaft und ist dann wieder beim Alten. Ich persönlich würde nicht vermuten, dass die Menschen nach dieser schweren, weltweiten Gesundheitskrise hilfsbereiter wären, als sie es vorher waren.

Glauben Sie, dass die Krise zumindest Anlass gibt, das Verhältnis von Armut und Wohlstand grundsätzlich zu überdenken?

Nein. Jeder Mensch hat mehrere innere Motivationen. Es gibt empathische Menschen, die vor der Krise schon empathisch waren, in der Krise empathisch sind und nach der Krise empathisch bleiben werden. Andere Menschen sind Egomanen, die nur an das denken, was für sie selbst gut, wichtig und notwendig ist. Sie sind zwar dabei, wenn die Kurve der Hilfsbereitschaft ansteigt, aber auch, wenn diese Kurve wieder abflacht. Die westliche Welt lebt schon lange über ihren Verhältnissen. Die Menschen beuten die Armen dieser Welt aus, damit sie es selbst besser haben. Ungeniert, bei KiK ein Leiberl um fünf Euro oder sogar noch weniger zu kaufen. Alle wissen, dass hier Blut daran klebt. Es gibt niemanden, der das nicht weiß. Aber die Menschen gehen trotzdem hin und kaufen es. Die Gier, hat eine Frau einmal zu mir gesagt, ist eine Sau. Das ist so. Noch mehr, noch besser, noch billiger, noch luxuriöser. Der jetzige Zwang, einfacher zu leben, tut uns allen gut, aber ich zweifle an der Nachhaltigkeit. Sobald die Krise vorbei ist und die Dinge wieder einigermaßen erreichbar sind, werden die Menschen sie kaufen. Man gewöhnt sich zu schnell und zu sehr an das, was man haben kann. Da fragt man nicht mehr, was der Preis dafür ist – der Preis ist der Verlust der Menschlichkeit.

14. April 2020