„Die Auswüchse im Sport muss man eindämmen“

Von Lukas Lorber

Der Sportsoziologe Otmar Weiß macht sich Sorgen um die Auswirkungen von Distance-Learning auf Schulkinder und hofft, dass die Corona-Krise kann Humanität und Fairness in den Spitzensport zurückbringt.

Seit fast 40 Jahren erforscht Otmar Weiß, emeritierter Professor für Sportsoziologe und Leiter des Universitätslehrgangs „Psychomotorik“ an der Universität Wien[1] , die Auswirkungen, die der Sport auf die Gesellschaft hat, insbesondere, auf welche Weise sich psychische Vorgänge und Bewegung wechselseitig beinflussen. So hat er zuletzt über  “effizientes Lernen” durch Bewegung publiziert. Das Corona-Virus hat das sportliche Leben vorübergehend eingefroren. Und das hat, so Weiß im Gespräch, Folgen.

Herr Weiß, betreiben Sie derzeit Sport?

Ja, natürlich. Ich habe mein Leben lang Sport betrieben und das mache ich natürlich auch jetzt. Ich laufe im Park und mache meine Übungen.

Viele ÖsterreicherInnen kommen derzeit auf den Geschmack, Sport zu machen. Warum genau jetzt?

Nicht nur der soziale Kontakt, sondern auch die körperlichen Bewegungsmöglichkeiten sind auf enge Räume beschränkt. Bewegung ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Durch dieses veränderte Verhalten macht sich das Grundbedürfnis nach Bewegung verstärkt bemerkbar.

In einer Studie aus dem Jahr 2016 haben Sie und Ihr Team festgestellt, dass regelmäßige sportliche Betätigung mehr Gesundheitskosten senkt als sie verursacht. Wenn die Bevölkerung nun mehr Sport macht, kann man davon ausgehen, dass das eine positive Auswirkung haben wird, oder?

Das würde ich genauso sehen. Wenn man sich körperlich fit hält, sinkt die Wahrscheinlichkeit zu erkranken oder zu sterben. Dann fallen weniger Krankheitskosten an und auf diese Weise erspart sich der Staat volkswirtschaftlich gesehen Kosten, die bei weniger Bewegung verstärkt auftreten und dem Gesundheitssystem zur Last fallen.

Während die Gesellschaft mehr Sport betreibt, bleibt sie weiterhin voneinander getrennt. Was macht das mit ihr?

Im Grunde ist das ein höchst unnatürliches Verhalten, das den Grundbedürfnissen des Menschen zuwiderläuft und sich auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirkt. Die Tragweite wird man erst im Nachhinein feststellen können.

Zur Persönlichkeitsentwicklung: Sie haben in einer Studie herausgefunden, dass sich Bewegung positiv auf den Lernerfolg von Kindern auswirkt. Jetzt müssen die Kinder auf E-Learning umsteigen. Glauben Sie, dass Distance-Learning negative Auswirkungen auf die Kinder haben kann?

Die Auswirkungen können verheerend sein. Die Maßnahmen betreffen die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen, weil Lernen mit dem ganzen Körper erfolgt. Dieser Prozess ist durch das Online-Learning sehr einseitig geworden. Der Mensch braucht Körperkontakt, Nähe, die Beziehung zum Menschen, um sich sinnvoll zu entwickeln. Man hätte sich überlegen müssen, den Bewegungsbedürfnissen entgegenzukommen und zu versuchen, Programme in den Schulen durchzuführen. So hätte man dem völlig unnatürlichen Verhalten ein bisschen entgegenwirken können.

Hätten Sie wirklich Kinder mitten in der Krise in die Schule gebracht?

Ich hätte sie zumindest für Bewegung und zu ihrem Schutz in die Schule gebracht. Man hätte hier kreative Modelle andenken müssen, die den Bedürfnissen der Kinder entsprechen und der unnatürlichen Situation entgegenwirken. Einerseits wären die Kinder vor den Gefahren geschützt, andererseits vermittelt man ihnen wichtige Impulse.

Im Breitensport sind Sportvereine nicht nur für die sportliche Betätigung, sondern auch für die Gemeinschaft essenziell. Spielen diese Vereine nach der Krise eine wichtige Rolle?

Vereine sind ein wichtiges Bindeglied für die Gesellschaft und erfüllen hier Funktionen, die durch nichts anderes ersetzt werden können. Man wird erst nach der Krise sehen, wie wichtig die Bewegung für den Menschen ist und Vereine bieten genau das an. Umso mehr wird die Arbeit in Vereinen aufgewertet werden, weil sie für die Entwicklung – vor allem der Kinder und Jugendlichen –  eine ganz wichtige Rolle spielt. Aber auch für die Älteren. Es bedeutet sehr viel an Lebensqualität, wenn ältere Menschen in Bewegung bleiben.

Neben dem Breitensport gibt es den Spitzensport. Hier kämpfen die Vereine, die oft eine große Fanbasis haben, mit der Krise. Was macht das mit den Fans, wenn die „zweite Familie“ über kurz oder lang nicht mehr da ist?

Der Spitzensport übernimmt eine wichtige Rolle durch die Identifikation und Vorbildfunktion. Umso wichtiger ist es, dass Sport nach der Corona-Krise wieder einen Platz in der Gesellschaft einnimmt. Allerdings wird man das System Sport überdenken müssen. Alles, was übertrieben ist, muss man genau beobachten. Diese Auswüchse im Sport sind klar ersichtlich. Diese Auswüchse muss man nicht nur im Sport, sondern auch in der Gesellschaft eindämmen, denn das geht alles auf Kosten der Natur.

Die Chance zur Veränderung sieht selbst FIFA-Präsident Gianni Infantino. Er sagt, dass „wir vielleicht den Fußball reformieren können, indem wir einen Schritt zurück machen“. Macht uns Corona demütiger?

Corona macht uns sicher nachdenklich. Es liegt nun an den Menschen, inwieweit sie hier kreative Lösungen finden. Menschliches Handeln ist durch Werte wie Gesundheit, Demokratie und Fairness geleitet. Der Sport liefert die Grundlage für die Gesellschaft, nämlich mit dem Fairness-Prinzip. Fairness bedeutet Chancengleichheit, Achtung des Gegners und Einhaltung der Regeln. Wenn dieses Fairness-Prinzip das Leitmotiv für den Sport und für menschliches Handeln darstellt, dann ergibt sich von selbst eine humane Form des Zusammenlebens und eine humane Sportform.

Glauben Sie, dass die Gesellschaft wirklich fairer wird?

Das könnte durchaus sein, denn wir leben in einem ständigen Wandel. Durch Kommunikation und die Auseinandersetzung mit der Corona-Krise gewinnt der Mensch neue Ansichten. Dass die Werte Fairness, Demokratie, Gesundheit oder Natur, wieder wirkliche Werte sind, die menschliches Handeln beeinflussen und nicht nur die Steigerung des Profits. Es gilt daher zu hinterfragen, ob unsere Werte noch die richtigen sind.

14. April 2020