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Asfan muss wachsam bleiben

Tausende Menschen riskieren Schikanen, brutale Attacken und sogar ihr Leben, weil sie auf Menschenrechte und Asyl in der EU hoffen. Vor allem entlang der „geschlossenen“ Balkanroute eskaliert die Gewalt gegen Flüchtlinge regelmäßig. In Belgrad erzählt Afsan, ein junger Afghane, über seinen schwierigen Weg.

Es ist ein grauer Novembertag in der serbischen Hauptstadt. Während es sich viele Menschen im Warmen gemütlich machen, feiert Afsan im Bristol Park seinen 25. Geburtstag. Der Afghane fällt auf, wirkt anders: Die meisten Parkbesucherinnen und -besucher sind zweckmäßig und dunkel gekleidet, Afsan hingegen trägt einen weißen Perahan, ein traditionell afghanisches Gewand.

Beinahe jede und jeder grüßt ihn hier im Park, der seit 2015 ein Hotspot für Flüchtlinge in Belgrad ist. Im selben Jahr kam auch Afsan nach Serbien. „Ich bin hier der Übersetzer, weil ich sieben Sprachen spreche. Mein Zielland ist Österreich, dort will ich als Dolmetscher arbeiten.“ Dass kein leichter Weg vor ihm liegt, weiß er bereits.

Das Spiel des Lebens

Mit dem Bau eines Grenzzauns zu Serbien im Herbst 2015 hat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nicht nur ein Tabu der EU gebrochen. Dieser Bau brachte auch einen Stein ins Rollen, der schnell die südlichen Nachbarn, aber auch Österreich, erfasste. Der damalige österreichische Außenminister und jetzige Bundeskanzler Sebastian Kurz verbucht die Schließung der sogenannten „Westbalkanroute“ als seinen Erfolg im Umgang mit der Fluchtbewegung. Die Entscheidung war EU-intern nicht abgesprochen und wurde von anderen Mitgliedsstaatenstark kritisiert. Diese arbeiteten zur selben Zeit an einer Übereinkunft mit der Türkei, weitläufig bekannt als „Türkei-Deal“.

Ausharren – das hat Afsan perfektioniert. Regelmäßig versucht er den Grenzübertritt von Serbien in ein EU-Land

Doch weder Grenzzäune noch Türkei-Deal können verhindern, dass Menschen vor Krieg, Not und Ausbeutung fliehen. So kamen laut der Internationalen Organisation für Migration auch 2017 Zehntausende über die Balkanroute nach Europa, einige von ihnen sitzen vorläufig in Serbien fest. „Es gibt kaum legale Maßnahmen für Flüchtlinge, dieses Land zu verlassen und die, die bestehen, funktionieren nur in der Theorie“, sagt Andrea Contenta vom serbischen Ärzte ohne GrenzenTeam. „Das Überqueren der Grenze wird von einigen Flüchtlingen als Spiel bezeichnet. Entweder du schaffst es oder du verlierst alles.“

Das weiß auch Afsan: „Ich habe es 56 Mal über die kroatische, 22 Mal über die ungarische, drei Mal über die rumänische und einmal über die bosnische Grenze versucht. Jedes Mal wurde ich geschlagen, mir wurden Handy und Geld abgenommen, manchmal sogar alles bis auf die Unterwäsche. Dann wurde mir aufgetragen, zurückzugehen.“ Das Abnehmen der Kleidung und Schuhe sei eine Methode, den Grenzübertritt schwierig bis unmöglich zu machen, sagt Contenta.

Die andere EU

Wie Afsan wollen die wenigsten Flüchtlinge in Serbien bleiben. Er bekomme zwar Asyl, aber keine Arbeit. „Ich brauche aber eine Lebensgrundlage.“ Außerdem kann man regelmäßig UNHCR-Berichten entnehmen, dass die Anerkennungsquote für Flüchtlinge in Serbien sehr niedrig ist. Auch Rayan, ein anderer Junge aus dem Park, hat es schon mehrere Male über die Grenzen versucht. Sein Ziel ist Frankreich.

„Obwohl diese Menschen von EU-Ländern kommen, wollen sie in andere EU-Länder reisen. Das ist ein großer Teil des Problems, denn keiner will in Rumänien oder Bulgarien bleiben. Ist das etwa eine andere EU?“, fragt Contenta. Afsan und Rayan waren zum Beispiel in Bulgarien, bevor sie nach Serbien kamen.

„Keiner will in Rumänien oder Bulgarien bleiben. Ist das etwa eine andere EU?“

Rayan verabscheut Bulgarien, dort hat er im Lager von Harmanli, nahe der türkischen Grenze, Furchtbares erlebt. Ende 2016 wurden rund 3000 Menschen in dem Lager eingesperrt, darauf folgte ein Aufstand der Flüchtlinge, auf den die bulgarische Polizei mit Wasserwerfern und Schlagstöcken reagierte. Im Internet häufte sich Bild- und Videomaterial von verletzten Flüchtlingen und den Übergriffen aus dieser Zeit. Auch Rayan zeigt uns seinen gebrochenen Finger und Bilder von Kopfverletzungen, die ihm während seines Aufenthalts in Harmanli zugefügt worden seien.

Um Bulgarien zu umgehen, nutzen einige Flüchtlinge die Route über das Schwarze Meer nach Rumänien. Da aber Rumänien ebenso wie Serbien für sie nur als Transitland nach Ungarn und von dort in weitere EU-Länder gilt, droht Orbán mittlerweile an der Grenze zu Rumänien einen weiteren Zaun zu errichten – sollte es der rumänischen Regierung nicht gelingen, die Einwanderung über das Schwarze Meer zu stoppen.

„Manchmal bleibe ich im Dschungel“, sagt Rayan. So nennen Flüchtlinge das Waldgebiet von Subotica nahe der Grenze

In Serbien harren währenddessen rund 5000 Flüchtlinge aus. Sie hoffen  auf die Weiterreise oder sind dabei, diese mit Hilfe von Schleppern zu planen. „Das Schleppen ist ein klar kapitalistisches System. Es beruht auf Nachfrage und Angebot“, erklärt Contenta. Einige Flüchtlinge kehren auch nach Griechenland zurück. „Ich werde es wieder und wieder über die Grenze versuchen. Könnt ihr uns nicht helfen?“, fragt Rayan, sein Blick ist müde.

Traum und Trauma von Europa

Zur Feier des Tages lädt Afsan uns auf Pizza und Cola ein. Auf dem Weg zum Pizzastand summt er ein Lied, trotz schwieriger Umstände hat er ein frohes Gemüt. Das ist mit ein Grund dafür, warum er nicht nur im Park, sondern auch in den Geschäften rundherum geschätzt wird. Die Pizzaverkäuferin freut sich über Afsans Besuch, sie unterhalten sich eine Weile. Mit der heißen Pizza setzt er sich schließlich an unseren Tisch, rührt sie aber erst an, als wir die Hälfte gegessen haben. Nach jedem verspeisten Stück besteht er darauf, dass wir ein weiteres nehmen, bis wir ihn endlich überzeugen können, selbst zuzugreifen.

Als er auf seine Vergangenheit zu sprechen kommt, wird er ganz ruhig. Seine Frau und Kinder seien in Kabul bei einem Bombenanschlag des Islamischen Staats 2016 ums Leben gekommen, sagt er. „Als ich sie nicht mehr erreicht habe, ist mein Herz stehen geblieben.“ Bis auf seinen Onkel, der in Österreich lebt, ist ihm niemand geblieben. „Ich mag das Kämpfen nicht, ich will glücklich sein und Freundschaften schließen. Ein neues Leben, ein neuer Anfang.“

In schlaflosen Nächten denkt Afsan an die Zeit mit seiner Frau Manisha

Jahrelange Flucht und das Leben in Lagern – das traumatisiert zusätzlich, neben den Erlebnissen, die überhaupt zur Flucht geführt haben. „Im Lager gibt es Messerstechereien und Gewalt untereinander. Ich schlafe nachts maximal zwei Stunden, die restliche Zeit höre ich Musik. Wachsamkeit, Wachsamkeit die ganze Nacht“, erzählt Afsan nun erschreckend ernst.

Hinzu kommt die ständige Abweisung an den Grenzen. Ärzte ohne Grenzen veröffentlichte letztes Jahr einen Bericht über die dramatischen Ausmaße der Gewalt durch EU-Grenzschutzbehörden an jungen Flüchtlingen an der serbischen Grenze zu Bulgarien, Ungarn und Kroatien. In dem Bericht ist von „Schlägen, Hundebissen und dem Einsatz von Tränengas“ die Rede. Ebenso sind offenbar Mängel und Unterkühlung durch die oft tagelangen Fußmärsche ohne warme und trockene Kleidung ein großes Problem. Ganz davon abgesehen seien diese Menschen auch psychischer Gewalt ausgesetzt. Zu diesen Ergebnissen ist Ärzte ohne Grenzen mithilfe der Aussagen der Betroffenen und deren Verletzungen, die in einem wiederkehrenden Muster auftreten, gekommen.

„Wir sollten wirklich über die psychischen Konsequenzen dieser Praktiken nachdenken, denn diese Menschen werden so oder so ein EU-Land erreichen und dort leben“, betont Contenta. Afsan wird den nächsten Grenzübertritt in vier, fünf Tagen versuchen.


Europäische Übereinkünfte zur Flüchtlingsbewegung

  • Schließung der Westbalkanroute = im März 2016 von Österreich mit Kroatien und Slowenien sowie den Nicht-EU-Staaten Mazedonien und Serbien beschlossen.
    Ziel: die Grenzen schließen und somit die Fluchtroute für Flüchtlinge unattraktiv machen
    Ergebnis: „Rückstaus“ in den Balkanländern, insbesondere Griechenland, sowie damit verbundene humanitäre Krisen an den Grenzen und in den Flüchtlingslagern
  • Türkei-Deal = ebenfalls im März 2016 beschlossen, Abkommen aller EU-Staaten mit der Türkei
    Ziel: Flüchtlinge werden von der Türkei an ihrer Küste aufgehalten, dafür werden von der EU bis zu diesem Jahr sechs Milliarden Euro zur Verbesserung der Lebensumstände für Flüchtlinge im Land bereitgestellt. Nicht-Asylberechtigte können von Griechenland wieder in die Türkei abgeschoben werden, für jeden abgeschobenen Flüchtling wird ein syrischer in der EU aufgenommen. Außerdem wurden türkischen Personen Visa-Erleichterungen in Aussicht gestellt.
    Ergebnis: Soweit hält sich die Türkei an die Vereinbarung, jedoch sind die Verhandlungen über Visa-Erleichterungen durch die willkürliche Politik Erdoğans vorerst auf Eis gelegt.

Text: Melanie Jaindl | Fotos: Verena Sophie Maier

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