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Skypen statt Kuscheln

Tausende rumänische Kinder wachsen aufgrund von Arbeitsmigration ohne beide Elternteile auf. Viele kennen ihre Eltern von Fotos und Bildschirmen, haben aber vergessen, wie es sich anfühlt, von Mama und Papa umarmt zu werden.

Es ist unmöglich, die eine Geschichte der zurückgelassenen Kinder in Rumänien zu erzählen. Es gibt Kinder, die bei einem Elternteil aufwachsen. Kinder, die ihre Mutter nach neun Jahren zu Weihnachten das erste Mal wieder glücklich in die Arme schließen. Kinder, die nicht ahnen, dass ihre Eltern am nächsten Morgen verschwinden werden, ohne sich zu verabschieden. Suzannas* Geschichte ist nur eine von vielen, aber vielen geht es wie ihr.

Über der oberösterreichischen Stadt Wels braut sich ein Gewitter zusammen. Während die ersten Tropfen auf die Fensterscheibe prallen, sitzt Suzanna am Esstisch vor Tee und Keksen und entsperrt ihr Smartphone. Ein Lächeln breitet sich auf dem Gesicht der Rumänin aus, als das Display des Geräts aus abertausenden Pixeln das Abbild zweier kleiner blonder Mädchen schafft. Mit rosa-silberner Kinderschminke auf Wangen und Stirn strahlen die beiden in die Kamera. Es sind Suzannas Töchter, Daria* und Viviana*. Die Zwillinge sind sechs Jahre alt und leben hunderte Kilometer entfernt bei den Großeltern.

480 Euro pro Monat

Seit einem Jahr arbeitet Suzanna in Österreich als 24-Stunden-Pflegerin und betreut im Wechsel mit einer zweiten Rumänin eine Frau namens Klara*. Von morgens bis abends ist sie für die über 90-Jährige da, hilft ihr aus dem Bett, auf die Toilette und in den Rollstuhl. Haushalte wie diesen gibt es in Österreich viele. 40,9 Prozent aller Personenbetreuerinnen und Personenbetreuer stammen wie Suzanna aus Rumänien, nur aus der Slowakei kommen noch mehr. Seit der Arbeitsmarktöffnung 2014 können Suzannas Landsleute uneingeschränkt in Österreich arbeiten.

Es ist der Ausblick auf mehr Geld, der die meisten dieser Arbeitskräfte ins Ausland lockt. Das rumänische Durchschnittseinkommen liegt bei 480 Euro netto, circa 20 Euro kommen als Kinderbeihilfe dazu. Viele Eltern können ihre Familie nicht finanzieren und wollen ihrem Nachwuchs eine bessere Zukunft bieten. Suzanna baut gerade ein Haus in Rumänien. Für den Baugrund schuftete sie einige Zeit in Italien. Klara zu pflegen, brachte genug Geld ein, um ein Dach auf den Rohbau zu setzen.

Die Waisen der EU

Offiziell wird die Anzahl der zurückgelassenen Kinder von der Generaldirektion für Sozialhilfe und Kinderschutz mit rund 98.ooo beziffert. Die Kinderrechtsorganisation Save the Children Romania geht entgegen dieser Zahlen von insgesamt 250.000 Kindern aus, die auf Grund der Arbeitsmigration ohne beide Elternteile aufwachsen. Grund dafür ist die vermutlich hohe Dunkelziffer. Man nennt die Kinder auch Eurowaisen, denn fast ein Drittel von ihnen lebt ganz ohne Vater und Mutter. Die Zahlen sind allerdings nur geschätzt, da es in Rumänien kein einheitliches System zur Datenerfassung gibt.

Die meisten Kinder bleiben in ländlichen Gebieten und im Osten des Landes zurück. Auch Suzannas Familie lebt dort, nahe der Stadt Onești. Der Osten ist die ärmste Region Rumäniens, von hier aus gehen die meisten Eltern fort, um im Ausland zu arbeiten. Misst man die Luftlinie, liegen rund 980 Kilometer zwischen der Mutter und ihren Zwillingen. Google Maps schlägt vor, diese Distanz mit einer 13-stündigen Autofahrt zu überwinden – die Realität sieht anders aus. Da die Agentur die Hin- und Rückfahrt für viele Pflegerinnen und Pfleger organisiert, kann diese abhängig von Abfahrt und Route bis zu zwei Tage dauern, wenn Schichtwechsel ist und Suzanna für vier Wochen nach Hause fährt.

Nicht nur Tränen

Die Organisation Save the Children Romania kümmert sich um die Eurowaisen Rumäniens. Anca Stamin koordiniert von Bukarest aus Projekte der Organisation. Sie hat Verständnis für die Eltern, weiß aber auch, wie es den verlassenen Kindern geht: „Sie fühlen sich im Stich gelassen und haben Schuldgefühle, denn die Eltern sagen: Ich gehe zu deinem Wohl und damit du es in Zukunft besser hast“. Betreuer wissen, dass manche Kinder unter emotionalen Störungen, fehlender Empathie und Traumata leiden – bis ins Erwachsenenalter. „Wir versuchen die Kinder dabei zu unterstützen, ihr Selbstbewusstsein und Vertrauen zurückzugewinnen. Das ist der Schlüssel zu gesunden und normalen sozialen Beziehungen“, erklärt Leonard Andreescu, ein Kollege von Stamin, der in einer Bukarester Schule betroffene Kinder betreut.

Die Schule, an der aktuell Andreescus Nachmittagsbetreuung stattfindet

Obwohl Andreescus Schützlinge unter schwierigen emotionalen Bedingungen leben, geht es in der Schule meist zu wie in vielen anderen Klassenzimmern. Heute beispielsweise verbringen zwei Schwestern, die wie Daria und Viviana bei ihrer Großmutter aufwachsen, ihren Nachmittag hier. Das jüngere Mädchen ist konzentriert über eine Zeichnung gebeugt, ihre schwarzen zum Zopf geflochtenen Haare fallen über die Schulter: „Das sind zwei Äpfel und Gras, hier ist der Tisch und darauf steht das Haus.“ Eine ganz normale Kinderzeichnung.

Der Sozialarbeiter blickt durch den Raum und meint: „Die Kinder fühlen sich mittlerweile wohl in dieser Gruppe, aber wenn du in die Gesichter blickst siehst du, dass manche traurig sind. Oft schauen sie einfach ins Nirgendwo.“

Heimliche Abreise

Wie die Kinder mit der Abreise und der Abwesenheit der Eltern umgehen, hängt auch davon ab, wie sich die Eltern verabschieden oder ob sie es überhaupt tun. Stamin erlebt es als besonders kritisch, wenn Eltern einfach verschwinden, ohne sich von ihren Töchtern und Söhnen zu verabschieden: „Sie denken, das sei der beste Weg, um die Kinder zu schützen. Wir denken, dass sie so nur sich selbst vor dem Trennungsschmerz schützen “.

Rechtlich gesehen ist es wichtig, das Sorgerecht an die neuen Verantwortlichen weiterzugeben. Geschieht das nicht, kann das Kind nicht eingeschult werden und erhält nur Notfallmedizinversorgung. Offizielle Zahlen gibt es nicht, doch Stamin nimmt an, dass sich weniger als ein Viertel aller Eltern um diese wichtige Formalität kümmert. Die Organisation arbeite auch mit der Kinderschutzbehörde und dem Bildungsministerium zusammen, aber „nicht mit den mächtigen Leuten, weil diese Positionen ständig neu besetzt werden“, meint Stamin.

Von der Oma zur Mama?

Suzanna brachte es nicht übers Herz, ihre damals 5-jährigen Töchter einfach zu verlassen. Bevor sie sich das erste Mal auf den Weg nach Österreich machte, dachte sie sich einen Test für Daria und Viviana aus. Sie verabschiedete sich, lebte aber eine Woche lang geheim nur wenige Minuten entfernt in ihrem unfertigen Haus. Erst als sie sah, dass es den beiden bei den Großeltern offenbar gut ging, konnte sie sich auf den Weg zu Klara machen. Und so half sie in den nächsten vier Wochen morgens der alten Dame aus dem Bett, anstatt ihren Kindern die Haare zu frisieren.

Anca Stamin erzählt von den Umständen, unter denen die Eurowaisen in Rumänien aufwachsen

Die Pflege der zurückgelassenen Kinder übernehmen in den meisten Fällen Verwandte. Aber während die Kinder Bilder am Smartphone hin- und herschicken, sind Oma und Opa oft überfordert und können ihre Enkelkinder nicht in die mediale Welt begleiten. Zu groß ist der Altersunterschied. Was sie vereint, ist, dass sie alle eine geliebte Person vermissen. Für die einen ist es die Tochter, für die anderen die Mutter.

Verbindung nach Hause

Suzanna sieht das Smartphone als die wichtigste Verbindung zu ihren Töchtern. Sie telefoniert jeden Tag mit ihnen und erzählt mit einem liebevollen Ausdruck in ihrem Gesicht: „Sie verstehen die Situation, aber sie vermissen mich“. Weinen muss sie nur, wenn ihre Kinder weinen. Seit kurzem haben die Zwillinge einen Hund und die Gespräche fallen kürzer aus. „Ich fühle mich besser, wenn meine Töchter beschäftigt sind, weil sie mich dann nicht so sehr vermissen“, sagt Suzanna, entsperrt ihr Smartphone und lächelt als sie auf ein Foto der beiden Mädchen mit dem Welpen blickt.

Noch immer prasselt der Regen gegen die Fensterscheiben und für die Rumänin ist es gleich Zeit, Klara für das Abendessen in den Rollstuhl zu heben. Respektvoll aber ehrlich sagt sie: „Sollte Klara sterben, werde ich nicht hierbleiben, sondern zurück nach Rumänien gehen. Das hier ist wie meine zweite Familie, aber es ist zu hart, die Kinder zu verlassen“. Viele Eltern können sich eine solche Rückkehr schlicht nicht leisten, doch zumindest für Daria und Viviana heißt es dann: Gutenachtkuss auf die Stirn, statt Mama aus Pixeln.

 


* Suzanna möchte, dass sie und ihre Kinder unerkannt bleiben. Deshalb wurden die Namen der Familie und der Pflegebedürftigen von der Redaktion geändert.


Text: Christina Rebhahn-Roither | Fotos: Anna Eisner-Kollmann

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