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Mit Worten gegen das System

„Unser Bildungssystem verlässt sich immer noch auf Strukturen aus dem Kommunismus“, erzählt Tudor Musat aus Bukarest, „das Debattieren setzt dem etwas entgegen.“ Der 19-Jährige ist seit fünf Jahren in der internationalen Debattierszene unterwegs und hat es damit sogar an die Cambridge University geschafft.

Mit „Strukturen aus dem Kommunismus“ meint Tudor nicht das vermittelte Gedankengut, sondern die Art und Weise, wie den Schülerinnen und Schülern der Lehrstoff vermittelt wird. „Auswendig lernen, Berge von Hausaufgaben, und fern von einer möglichen praktischen Anwendung“, so beschreibt er das Bildungssystem an höheren Schulen und Universitäten in Bukarest. Die rumänische Debattiergesellschaft ARDOR ist davon überzeugt, dass im Leben vielfältigere Kompetenzen nötig sind. Die wollen sie ihren Mitgliedern vermitteln.

Südosteuropas größte Debattierszene

Während in Österreich keine vergleichbaren Strukturen vorhanden sind, gibt es in Rumänien mit mehr als 200 teilnehmenden Schulen die größte Debattierszene in Südosteuropa. Jährlich entdecken zwischen 1.500 und 2.000 Schülerinnen und Schüler das Debattieren für sich – verantwortlich dafür sind die weiterführenden Schulen, an denen der Schulsport angeboten wird. Lehrpersonen und Alumnis ermöglichen das Angebot als außerschulische Aktivität für Interessierte ab 14 Jahren.

Monica Mocanu, Vorsitzende der rumänischen Debattiervereinigung ARDOR, war für ein persönliches Gespräch leider nicht zu erreichen. Auf der Website des Vereins berichtet sie aber
stolz, dass auch das Ministerium für Bildung, Forschung, Jugend und Sport das schnell wachsende Programm fördert. Vor kurzem wurde das Debattieren auch als offizielle Disziplin für die nationalen Schulolympiaden anerkannt. „Das Ministerium unterstützt durch Fonds auch die Teilnahme der Debattierenden an internationalen Wettbewerben“, so Mocanu. Der Großteil des benötigten Geldes wird aber von Alumnis gespendet.

Tudor und sein Team bei einem EU-weiten Wettbewerb

Kampf mit Worten

Bei den Debattier-Wettbewerben treffen zwei Teams mit je drei Mitgliedern aufeinander.
„Dann werden komplexe Fragen gestellt, etwa: „Sollten Parteien mit Verbindungen zu religiösen Gemeinschaften in einer Demokratie verboten werden?““, führt Tudor Musat aus. „Egal, ob improvisiert oder mit Zeit zur Recherche – für die Debatte ist immer ein Grundverständnis von Demokratie und Weltgeschehen nötig!“ Eines der Teams bezieht die Pro-, das andere die Contra-Position zu dem Statement – dann wird diskutiert. In Reden können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihren Standpunkt darlegen und müssen dabei versuchen, die Jury von ihrer Sichtweise zu überzeugen.

Bettlektüre: The Economist

So erklärt sich Tudor auch das immense Allgemeinwissen, das Debattierer im Laufe ihrer Karriere erwerben: Viele von ihnen lesen wöchentlich Magazine wie The Economist, um auf die Bewerbe vorbereitet zu sein. Er selbst hat bis heute immer die aktuelle Ausgabe auf seinem Nachttisch liegen.

Neben den Erfahrungen, die Schülerinnen und Schüler durch das Debattieren sammeln, erwerben sie vor allem Fähigkeiten, die im Schulalltag viel zu kurz kommen. Dazu zählen Selbstvertrauen beim öffentlichen Reden und große Spontaneität. Sowohl auf Bewerben, als auch am Arbeitsmarkt muss man schnell und taktisch auf Gegenargumente reagieren können.

Durch die Recherche und den regelmäßigen Medienkonsum können Mitglieder von Debattierclubs auch bei komplexen Themen mit ihrem Wissen glänzen – oder zumindest wissen sie, wo sie seriöse Quellen finden. Am Wichtigsten ist für Tudor, der heute das Team seiner ehemaligen Schule coacht, aber das kritische Denken: „Stellst du einem Debattierenden eine Frage, die mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten ist, wird er dich um mehr Zeit bitten – für uns gilt es, immer beide Seiten zu betrachten!“.

Inzwischen coacht Tudor ein Team seiner alten Schule für die internationalen Wettbewerbe

Durch’s Debattieren an die Cambridge University

Seit 2017 studiert Tudor durch ein Stipendium an der renommierten Cambridge University. Verantwortlich für diesen Schritt macht er seine Debattier-Erfahrungen; der Aufnahmeprozess für die Universität ist den Wettbewerben in Aufbau und Anforderungen sehr ähnlich. Auch in der Cambridge Union, der ältesten Rhetorik-Verbindung der Welt, kann er seine Karriere auf diesem Gebiet nun fortsetzen.

Durch das Programm eröffnen sich Karrierechancen, die vielen Alumnis in beruflich hohe Position helfen. Dies verändert auch die rumänische Gesellschaft – langsam, aber unaufhaltsam. Inzwischen gibt es Debattier-Alumnis an Parteispitzen, etwa den liberalen Politiker Claudiu Nasui. Im rumänischen Parlament wurde erst letztes Jahr ein Debattierklub für die Parlamentsabgeordneten gegründet.

Rhetorik – ein Instrument der Demokratie

Durch die Clubs in den weiterführenden Schulen verändert sich für die Jugendlichen vieles zum Besseren. Es schafft bereits ab einem jungen Alter Verständnis für die Demokratie und deren Vorgänge. Durch die frühe Konfrontation mit kritischen Inhalten entwickeln sie einen starken Sinn für Gerechtigkeit und soziale Missstände. Trotzdem sind sie bereit dazu, Kompromisse einzugehen und sich in ihrem Weltbild von einem schematischen Schwarz-Weiß-Denken zu entfernen. Das beschreibt Monica Mocanu auch als das Hauptziel ihrer ehrenamtlichen Arbeit bei ARDOR: „Unser Ziel ist es, dass die Jugend gekonnt argumentieren und damit die Standards einer öffentlichen Debatte verstehen und selbst umsetzen kann – um gute Zwecke und Ziele zu unterstützen“.

Auch demographische und soziale Unterschiede werden durch den Geistessport verringert. Durch die Beschäftigung und das Ziel, das damit einhergeht, können viele Schulen Problemkinder von den Straßen fern-, und im Bildungssystem halten. Die große Wirkung, die das Debattieren auf das Land hat, überrascht Tudor Musat aber nicht. Er glaubt, dass damit Demokratien gestärkt oder sogar gerettet werden können. Über Rumänien sagt er: „Dieses ungewöhnliche Instrument der Demokratie ist bei uns gerade deshalb so groß geworden, weil es wirklich, wirklich notwendig war.“


Text: Anna Holzhacker | Fotos: Tudor Musat

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