Sie haben ein Dach über dem Kopf und einige sogar einen fixen Job. Dennoch leben sie in großer Armut – die Krisenfamilien von Kiew. Das Sozialsystem der Ukraine hilft diesen Familien nicht weiter. Zirka vier Euro haben sie pro Tag zur Verfügung. Familie Chistova gehört zu jenen, die versuchen, in den Plattenbauten von Trojeschtschina zu überleben.
Text: Anna Eberharter, Fotos: Daniel Kindler
Ein Hochhaus reiht sich an das andere. Grau in Grau. Die Stiegen im Inneren des Wohnhauses sind brüchig und uneben. Der Lift ist eng und die Luft trocken. Es riecht nach Hühnern und Stroh. Morsche Holztüren in kahlen Ziegelwänden. „Hallo! Ist jemand zu Hause?“ Nach mehrmaligem Anklopfen und gutem Zureden wird eine schwere Tür geöffnet. Dahinter steht ein junger Mann. Dennis ist 17 Jahre alt. Er und seine Familie leben in ärmsten Verhältnissen in den Kiewer Plattenbauten. Die Mutter ist noch unterwegs. Sie holt den kleinen Bruder von der Schule ab. Dennis telefoniert kurz und wirft den zwei Besucherinnen nervöse Blicke zu. Beide, Vera Sknarina und Natasha Kuratnik, sind von der Organisation „Child Development Center“, ein Sozialprogramm, das mit Familien arbeitet, die ohne Unterstützung das Leben nicht bestreiten könnten. Finanziert wird es von privaten SponsorInnen und GönnerInnen, die anonym bleiben wollen.
Vera Sknarina stammt aus einer großen Familie und ist in der Ostukraine aufgewachsen. Der frühe Tod des Vaters hat ihre Mutter gezwungen, Hilfe von außen anzunehmen. Alleine mit den acht Kindern war sie überfordert. Vera Sknarina lächelt, wenn sie von ihrer Kindheit erzählt: „Es war nicht einfach, aber ich habe gelernt, was es bedeutet, Hilfe anzunehmen.“ Später zog sie zusammen mit Bruder und Schwester nach Kiew. Jahrelang arbeitete sie mit Straßenkindern. Sie sammelte diese buchstäblich von den U-Bahn-Stationen und Gassen Kiews auf. „Ich habe verstanden, dass es wichtig ist, die Ursache eines Problems zu bekämpfen”, sagt sie. Das Child Development Center arbeitet seit über fünf Jahren mit Familien in Not, sogenannten Krisenfamilien, zusammen. Mit dem Ziel, dass die Kinder und Jugendlichen erst gar nicht zu Straßenkindern werden. Sie sollen ein Zuhause haben, in dem sie bleiben wollen und sich wohlfühlen, mit einer möglichst sicheren und stabilen Familienstruktur.
Alltag im Plattenbau
Die Tür geht ein zweites Mal auf und eine Frau mittleren Alters in violettem Pullover kommt in die Wohnung. An ihrer Hand ein kleiner Junge im Anzug. „Privjet“, begrüßt sie die unangekündigten Hausbesucherinnen und lächelt freundlich. Die Schneidezähne fehlen ihr und die wenigen Zähne, die noch da sind, verfärben sich bereits schwarz. Die Haare sind kurz geschnitten. Falten zeichnen Elena Chistovas Gesicht. Sie weiß, wie solche Besuche ablaufen. Seit vielen Jahren schon wird sie von der Organisation begleitet. „Sie würde es nie zugeben, aber die Alkoholsucht von Elena und ihrem Mann haben sie noch viel ärmer gemacht, als sie ohnehin schon waren“, erklärt Vera Sknarina. Mit zirka 110 Euro im Monat muss die gesamte Familie auskommen. Essen, Kleidung und Miete werden damit bezahlt. Als das Geld bei Weitem nicht mehr gereicht hat und alles aussichtslos wirkte, griffen die Eltern zur Flasche. Für die beiden ist das die einzige Möglichkeit, ihre Sorgen zu vergessen. Wenigstens für ein paar Stunden. „Setzen Sie sich doch bitte“, bietet die Hausherrin an und zeigt auf zwei desolate Betten. Der jüngste Sohn sitzt bereits. Alle anderen bleiben stehen. Es ist kalt in dieser Wohnung. Die Fenster sind undicht und eine Heizung gibt es nicht. Einzelne Bücher liegen in den Regalen, Kleidungsstücke sind am Boden des Zimmers verstreut. „Ich gebe mein Bestes“, betont Elena Chistova immer wieder. Sie trinkt nicht mehr und versucht mit kleinen Handarbeiten Geld zu verdienen. Der Lohn des Mannes reicht nicht aus, um die Familie zu ernähren. Gute Arbeitsplätze sind rar. Elena Chistova kauft sich Perlen und Fäden und knüpft kunstvolle Halsketten und Armbänder. Stolz präsentiert sie ihre Werke. Sie ist aber nicht die Einzige, die sich mit selbstgemachtem Schmuck Taschengeld dazuverdienen möchte und so ist es beinahe unmöglich, Handarbeiten zu verkaufen. Aber sie hat Hoffnung. Hoffnung, dass ihre Kinder einmal ein besseres Leben führen können.
Kein Geld – Keine Zukunft
Auch der älteste Sohn Dennis findet keine Arbeit. Der 17-Jährige wirkt bedrückt, wenn seine Mutter vom Alltag im Plattenbau erzählt. Morgen hat er Geburtstag. In Feierlaune ist keiner. Nicht einmal einen Geburtstagskuchen kann sich die Familie leisten. Die Stimme der Mutter wird leiser und die Augen füllen sich mit Tränen. Dennis verlässt den Raum. Der Jüngste spielt gedankenverloren mit einer Schnur. Plötzlich ist es ganz still in der Wohnung und dann beginnt Elena Chistova von ihrer Tochter zu erzählen. Sie sei noch in der Schule. Die Mutter zeigt stolz Medaillen und Urkunden der Tochter von diversen Sportwettkämpfen. Eines Tages könnte sie eine berühmte und erfolgreiche Sportlerin werden. Ein Traum der Mutter würde in Erfüllung gehen. Doch wieder einmal fehlt das Geld. Trainieren kann die Tochter kostenlos im Zuge verschiedener Sozialprojekte und in der Schule. Aber an Wettkämpfen teilnehmen kann sie nur gegen eine Startgebühr. Dafür fehlt das Geld. Ohne die Teilnahme an Wettkämpfen besteht keine Hoffnung auf eine Karriere als Profisportlerin. Die Familie Chistova ist kein Einzelfall. Vera Sknarina hat täglich mit solchen Krisenfamilien zu tun. In der Organisation arbeiten fünf Vollzeit-MitarbeiterInnen. PädagogInnen und PsychologInnen, die vor allem Kinder betreuen und Hausbesuche machen, um sicherzustellen, dass die Kinder nicht verwahrlosen. Betreut werden über 200 Familien in ganz Kiew und täglich bekommt sie neue Anrufe von besorgten NachbarInnen, Familienmitgliedern oder FreundInnen, die um Hilfe bitten. Die Perspektivenlosigkeit verführt viele zu Drogen oder Alkohol. Der Rausch betäubt ihre Sinne und lässt sie die Armut vergessen. Der Krieg im Osten der Ukraine habe die Lage der Familien in Kiew jedoch nicht wesentlich verschlechtert, meint Vera Sknarina: „Vor dem Krieg war das Sozialsystem auch schon fehlerhaft und die Lage der ärmeren Bevölkerung in Kiew grausam. Das hat sich noch nicht geändert. Hier in der Ukraine arbeiten die Leute für das System und nicht das System für die Leute.“
Die Kinder der Hilflosigkeit
Elena Chistova streichelt ihrem jüngsten Sohn über den kahlrasierten Kopf. Immer noch spielt er ruhig vor sich hin und ist in seine Gedanken versunken. Nur selten blickt er auf, betrachtet die Frauen, die miteinander sprechen, seine Miene bleibt regungslos. Wie die meisten minderjährigen Kinder aus Krisenfamilien besucht er manchmal die Tagesbetreuungsstätte des Child Development Centers nach der Schule. Dort spielt er mit anderen Kindern, er bekommt Hilfe bei Schulaufgaben und eine Psychologin spricht mit ihm. Die Tagesstätte ist für die Kinder ein geschützter Ort. Dort fühlen sie sich wohl und können einfach Kind sein. Zusätzlich zur Betreuung bietet das Zentrum auch Kurse an – sowohl für die Kinder als auch für die Eltern. Mehrmals wöchentlich findet zum Beispiel ein Karatekurs statt. Der Lehrer hilft den Kindern, sich auszupowern und ihren Körper besser wahrzunehmen. „Wir wollen den Kindern vermitteln, dass sie Talente haben und vieles erreichen können. Vor allem die Älteren haben kein Vertrauen in sich selbst und es fehlt ihnen an Selbstwertgefühl“, erzählt Vera Sknarina.
Wenn das Beste nicht ausreicht
Natasha Kuratnik blickt sich im Raum um und trifft den Blick von Elena Chistova. Sie lächelt der Mutter ermutigend zu. „Ich tue wirklich mein Bestes“, betont diese ein weiteres Mal. In ihren Augen sieht man die Verzweiflung. Es gibt keine Jobs, und wenn doch, sind sie miserabel bezahlt. Sie versucht ihren Kindern eine gute Mutter zu sein, versucht ihnen Perspektiven zu geben. Aber wie, wenn Träume schneller zerplatzen als Seifenblasen? Vera Sknarina und Natasha Kuratnik verabschieden sich von der Familie und versprechen wiederzukommen. Am besten mit einem Schrank oder einer Garderobe, wo die Familie ihre Kleidung aufbewahren kann. „Dieser Hausbesuch war erfolgreich. Die Situation der Familie hat sich wenigstens nicht verschlechtert”, stellt Vera Sknarina erleichtert fest. Elena Chistova begleitet die Besucherinnen hinaus. Sie lacht, bedankt sich. Dann fällt die schwere Wohnungstür mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss.