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Generation Euromaidan

Für eine europäische Ukraine haben Khrystyna Arkhytka, Alexey Furman und Roman Kotljarewski vor drei Jahren am Maidan ihr Leben riskiert. Was ist aus ihren Träumen geworden?
Text: Sara Noémie Plassnig; Titelfoto: Alexey Furman

Khrystyna Arkhytka erinnert sich noch daran, als ob es gestern gewesen wäre – an den Anruf ihres Freundes am 20. Februar 2014: „Khrystyna, komm ins St. Michaelskloster, schnell!“ Sie bräuchten Hilfe. Sie erzählt, wie sie damals kurz darauf wieder ein Telefon in der Hand hielt und die Hinterbliebenen von 70 Toten kontaktierte, deren Körper den Fußboden des Klosters bedeckten. Drei Monate zuvor, am 21. November 2013, war Khrystyna Arkhytka bei einem Konzert am Europäischen Platz. „Alle Menschen haben darauf gehofft, dass Janukowytsch diesen EU-Vertrag unterschreibt“, erzählt Arkhytka. „Die Stimmung beim Konzert war sehr friedlich. Viele trugen blau-gelbe Bänder und ukrainische Flaggen. ‚Platsch Jeremiji‘ sind aufgetreten“, erinnert sich Khrystyna Arkhytka, die in Kiew Englisch unterrichtet. Die Texte der ukrainischen Rockband sind ernst, philosophisch und poetisch. In nur einem Lied schaffen sie es, ihre Musik von zarten Balladenklängen zu hartem Rock zu steigern, bis sie beinahe vor Emotionen zu explodieren scheint.

Aktivistin Khrystyna Arkhytka auf einem Selfie im damals besetzten Ukrainischen Haus. Foto: Khrystyna Arkhytka

Maidan steht für Unabhängigkeit

Das Konzert wird Khrystyna Arkhytka dann doch „zu politisch“, denn eigentlich interessiert sie Politik gar nicht. Die 28-Jährige vertraut weder Organisationen noch Parteien ihres Landes. „Die sind mir alle zu korrupt“, sagt sie. Also verlässt sie den Europäischen Platz und spaziert ein paar hundert Meter weiter zum Unabhängigkeitsplatz: „Journalisten und Sänger waren dort, ohne politische Slogans.“ Auch die ehemalige Gewinnerin des Eurovision Song Contests, Ruslana Lyschytschko, tritt auf. „Damals kam der Begriff ‚Euromaidan‘ auf. Und wir blieben“, erinnert sich Arkhytka. Mit „wir“ meint sie zweitausend Menschen, großteils Studierende, die gegen den ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch demonstrierten. Sie alle folgten an diesem Abend dem Facebook-Aufruf des Journalisten Mustafa Najem: „Treffen wir uns um 22 Uhr 30 in der Nähe der Unabhängigkeitsstatue, in der Mitte des Maidans.“ Der Hintergrund dieser Aktion: Janukowytsch wollte, entgegen früheren Versprechungen, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen. Khrystyna Arkhytka hatte wie viele andere mit der Unterzeichnung des EU-Vertrages auf Veränderung in ihrem Land gehofft. „In den folgenden Novembertagen“, erzählt sie, „haben wir gemeinsam gesungen und wollten einfach nur zeigen, dass wir hier sind.“

Revolution der Würde

Knapp eine Woche später erfährt Khrystyna Arkhytka aus den Nachrichten, dass Berkut-Polizisten am frühen Morgen des 29. November versucht hatten, den Maidan brutal zu räumen. Sie erfährt, dass dabei unzählige AktivistInnen bei ihrem Rückzug ins St. Michaelskloster mit Schlagstöcken brutal verprügelt wurden. Sie macht sich sofort auf den Weg in das Kloster, in das bereits tausend BürgerInnen Lebensmittel, Medizin und Kleidung gebracht hatten. „Das war ein Schock für alle“, sagt sie. Die Behörden begründen den Einsatz damit, dass sie den jährlichen Christbaum am Platz aufstellen wollen. Aber in den Köpfen der UkrainerInnen manifestiert sich: „Die Regierung schlägt unsere Kinder.“ Die Euromaidan-Proteste werden zu einer Massenbewegung. Eine halbe Million Menschen strömen in die Innenstadt, um gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren.

Vereint im Protest

Trotz Versammlungsverbots halten die AktivistInnen im Zeltlager am Maidan die Stellung. Zwischen Barrikaden aus Reifen, Schnee und Holzbrettern schenkt Khrystyna Arkhytka warmen Tee an die Kampierenden aus. Tagsüber arbeitet sie als Privatlehrerin, die Nächte verbringt sie auf dem Maidan. Im besetzten Gewerkschaftshaus belegt sie Sandwiches mit gespendeten Tomaten. Wer die Freiwilligenarbeit koordinierte, weiß Arkhytka bis heute nicht und auch nicht, von wem ihr Arbeitsausweis stammte: „Hauptquartier des nationalen Widerstandes“ und „Kantine“ ist in kyrillischen Lettern zwischen der ukrainischen Flagge und jener der EU gedruckt. In der Protestbewegung waren jedenfalls auch drei politische Parteien aktiv: „Vaterland“ von Julija Tymoschenko, „UDAR“ mit Profiboxer Vitali Klitschko, dem späteren Bürgermeister von Kiew, sowie die rechtsradikal-nationalistische „Swoboda“ mit Oleh Tjahnybok. Ihren Ausweis zeigte Khrystyna Arkhytka jeden Abend, bevor sie in der Küche ihren Dienst antrat. „Dort habe ich mich einmal lange mit einer Frau aus Donezk
unterhalten. Sie meinte, dass alle zusammen gegen die Regierung auftreten müssten. Davor war ich überzeugt, dass Menschen in der Ostukraine anders denken als wir. Ich war überrascht, dass es nicht so war“, erzählt sie.
Zu diesem Zeitpunkt kamen 88 Prozent der Teilnehmenden nicht aus der Hauptstadt. Ein Viertel von ihnen ist aus dem Osten des Landes angereist. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Fonds demokratischer Initiativen und des internationalen Instituts für Soziologie aus Kiew, bei der 1037 Menschen befragt wurden. Rund 70 Prozent der AktivistInnen begründeten ihren Protest mit der Polizeigewalt.

Marsch der Millionen

Als Vorbereitung auf die nächste Kundgebung bemalte Khrystyna Arkhytka mit ihren Freundinnen Motorrad-, Ski- und Fahrradhelme im besetzten Ukrainischen Haus. Um die Ecke fertigten AktivistInnen im Gewerkschaftshaus Holzschilder und Schutzwesten an. Dieses Mal kamen 800.000 Menschen. Es war die größte proeuropäische Demonstration in Europa. Obwohl sie eigentlich nationalistische Ziele verfolgen, nahmen daran auch Mitglieder des rechtsradikalen „Prawyj Sektor“ teil. Umstritten ist bis heute, ob der Rechte Sektor bei den Protesten eine Schlüsselrolle einnahm. „Die russischen Medien stellten den Euromaidan als politisch rechte Revolution dar“, sagt der Fotojournalist Alexey Furman aus Kiew, der die Proteste von Beginn an festhielt. Wie die Lehrerin Arkhytka verbringt der 25-Jährige Tag und Nacht am Maidan – bis zu 37 Stunden am Stück. Über den Euromaidan zu berichten, bedeutete für Alexey Furman mehr als nur seinen Job zu machen: „Ich spürte einfach, dass ich dort sein musste. Anfangs versuchte ich noch, objektiv zu sein, doch nach ein paar Wochen war ich Teil dieser Menschen“, sagt der Fotojournalist. Vor allem an den Tagen nach den Zusammenstößen seien zahlreiche FotografInnen vor Ort gewesen. Ihre Videoaufnahmen und Fotos zeigen brutale Straßenschlachten in der Innenstadt Kiews. Etwa als AktivistInnen versuchten, das Parlament zu stürmen, nachdem die Abgeordneten Gesetze beschlossen hatten, die die Bürgerrechte stark einschränkten. Unter anderem wurde verboten, bei Kundgebungen Schutzhelme zu tragen.

Die ersten Todesopfer

Aus einer anderen Perspektive hat Roman Kotljarewski die Proteste erlebt. „Die meisten AktivistInnen haben Tränengas oder einen Stein abbekommen. Einige hatten gebrochene Nasen und Rippen von den Schlagstöcken der Berkut“, erzählt er nahezu emotionslos über seine Erlebnisse auf den Straßen Kiews. Da traf er die Entscheidung, als ehrenamtlicher Rot-Kreuz-Helfer die Verletzten zu versorgen. Selber wollte er keine Steine werfen, sagt er. Sein dichter, dunkler Vollbart bewegt sich bei jedem Wort. Er erinnert sich, wie er am Tag nach dem gescheiterten Sturm auf das Parlament in der Hruschewskyj-Straße auf einen alten Freund traf, den Einsatzleiter des Notfallteams in Kiew. Bereits 24 Stunden später erhielt er seine
Uniform. Damals arbeitete der 36-Jährige hauptberuflich als Logistik-Manager und hatte gerade einmal einen Erste-Hilfe-Kurs an der Universität besucht. Nach Dienstantritt half der russischstämmige Ukrainer AktivistInnen, die ohnmächtig wurden, an Erfrierungen oder Fieber litten. „Wir hatten minus 26 Grad in Kiew“, erinnert sich Kotljarewski. Doch schnell bekam sein Einsatz andere Dimensionen. Am Morgen des 22. Jänner 2014 werden der 20-jährige Ostukrainer Sergej Nigojan und der weißrussische Journalist Michail Schysneuski erschossen. „Die Berkut hat Gummigeschosse verwendet, aber auch Geschosse aus Metall, um Autos aufzuhalten. Die Metallkugeln waren sehr groß und wurden in die Motoren abgefeuert. Mit diesen Kugeln haben sie auf den Aktivisten aus Weißrussland geschossen“, sagt Kotljarewski.

Demonstrierende zünden zur Verteidigung gegen die Polizisten der Spezialeinheit Berkut Barrikaden an. Foto: Alexey Furman

Der Maidan brennt

Von hier an gab es kein Zurück mehr: Es beginnt eine Spirale aus Gewalt und Gegengewalt, die sich immer schneller dreht. Am 18. Februar 2014 versuchten Berkutpolizisten erneut, den Euromaidan aufzulösen. „Sie haben die Demonstranten vom Regierungsviertel zurückgedrängt. Dabei haben sie eine unserer Krankenstationen zerstört“, berichtet der Sanitäter Kotljarewski über den Sturm auf den Oktoberpalast der Kulturen. Das Rote Kreuz handelt auch in Kiew nach dem Grundsatz, in Konflikten neutral zu bleiben und jedem Menschen in Not zu helfen. SanitäterInnen kooperierten mit der Polizei. Damit hatte Kotljarewski kein Problem. Nur so konnten sie zurückgebliebene Verwundete im Oktoberpalast verarzten. Außerdem seien sowohl die Berkut-Polizisten als auch einige der Demonstrierenden grausam gewesen, so Kotljarewski. Nach einer kurzen Pause ergänzt er: „Die erste Ausschreitung kam jedes Mal von der Berkut. Sie haben viele Fehler gemacht. Die Aktivisten haben dann darauf geantwortet.“ Aufzeichnungen von jenem Tag zeigen, wie AktivistInnen Pflastersteine aus dem Boden schlagen und Reifen und Bretter der Barrikaden anzünden, um die Polizeieinheiten abzuhalten. Sie zeigen Flammen, die um die Zeltstadt am Maidan lodern und dicke Rauchwolken emporsteigen lassen. Das Gewerkschaftshaus, in dem verletzte AktivistInnen Schutz gesucht haben, wird in Brand gesetzt – wieviele Menschen genau in den Flammen starben, ist bis heute nicht restlos geklärt.

Scharfschützen gegen Zivilistinnen

Khrystyna Arkhytka begann sich nach diesen Ereignissen nun auch in ihrer Wohnung in einem Kiewer Vorort zu fürchten. Sie hörte, dass Häftlinge freigelassen wor
den seien und sich im nahegelegenen Wald aufhielten. Sogenannte „Tituschki“, angeblich von der ukrainischen Regierung bezahlte Schläger. Sie lauerten AktivistInnen auf, verprügelten, entführten, folterten und töteten. Einer von Arkhytkas Verwandten sei in einem Waldstück aufgefunden worden – ohne Kopf, Arme und Beine. „Das war schrecklich. Ich wusste nicht wohin, also bin ich auf den Maidan“, sagt die junge Frau. „Als ich ankam, haben Scharfschützen bereits die ersten Demonstranten erschossen“, erinnert sich Arkhytka. Wer die Scharfschützen waren, die damals die ersten Schüsse abgaben, ist bis heute Gegenstand von Untersuchungen. Zwei Tage darauf begegnet auch der Rot-Kreuz-Helfer Roman Kotljarewski dem Tod. Er hat Angst, als er die Instytutska-Straße hinauf geht. „Sie haben geschrien, wir sollen schneller machen, weil oben eine Schießerei im Gange ist“, erzählt er. „Ein Mann kam uns auf den Knien entgegen. Er blutete aus dem Mund. Sie haben seine Lunge mit einer Kugel getroffen“, schildert Kotljarewski. „Dann sahen wir einen anderen Mann auf der Straße liegen. Er war bereits tot. Ich beugte mich über ihn, er hatte eine Kugel im Kopf. Wir konnten nichts mehr machen, außer ihn von der Straße zu heben.“ Ustym Golodnjuk hieß der Tote, er war 19 Jahre alt. Der Sanitäter Roman Kotljarewski hebt ihn auf die Trage. Er hört einen Schuss. Spürt wie der Muskel seines rechten Oberschenkels zerspringt. Er stürzt. Und liegt plötzlich mit einer Schusswunde im Bein selbst am Boden. Seine Kollegen hieven den toten Ustym Golodnjuk von der Trage und legen ihren Kollegen darauf. Sie bringen Kotljarewski in das provisorisch eingerichtete Feldspital im Hotel Ukrajina. „Dort hat mich ein Pfarrer gesalbt. Er wollte auf Nummer sicher gehen, denn am Boden lagen bereits 30 tote Körper“, erinnert sich der Rot-Kreuz-Helfer.

Tote im Kloster

Die Kämpfe zwischen den AktivistInnen und der Berkut-Polizei gehen weiter. Am 20. Februar bekommt Khrystyna Arkhytka jenen Telefonanruf, mit dem sie ihr Freund ins St. Michaelskloster zur Hilfe holt. „Das Kloster war voller Toter. Es war grauenhaft. Wir riefen Verwandte an und fragten, ob derjenige, der hier liegt, der Ehemann sein könnte,“ erzählt sie mit starrem Blick. Freiwillige, die vor ihr da waren, hatten Geldbörsen nach Ausweisen durchsucht, um die Verstorbenen zu identifizieren. Die blutigen Proteste endeten mit der Flucht des Präsidenten Wiktor Janukowytsch nach Russland. Noch heute sind die Spuren dieser Tage im Stadtbild von Kiew zu sehen. Die Einschusslöcher an den Laternenpfeilern an der Instytutska-Straße sind so groß wie Daumenabdrücke. Darunter erinnern Gedenksteine an die mehr als hundert Toten des Maidan – an die „Himmlische Hundertschaft“. Heute noch bringen die KiewerInnen täglich Kerzen und Blumen an diesen Ort, eben erst wurde ein neues Denkmal aus schwarzem Marmor neben dem Hotel Ukrajina errichtet. Auch 18 Berkut-Polizisten wurden damals getötet.

Rot-Kreuz-Helfer Roman Kotljarewski vor den neu errichteten Denkmälern für die Maidanopfer – an dieser Stelle wurde er am 20. Februar 2014 angeschossen.

Drei Jahre danach

Die Spekulationen darüber, wer am Ende die Verantwortung für die Eskalation trug, halten bis heute an. Denn bei der Aufklärung der Verbrechen während des Euromaidan wurden keine wesentlichen Fortschritte erzielt. Das geht aus einem im Dezember 2016 veröffentlichten Bericht des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der Europäischen Kommission hervor. Andererseits seien im Laufe der letzten zwei Jahre in allen Bereichen der Wirtschaft und der
Politik grundlegende Reformen durchgeführt, demokratische Institutionen gestärkt worden. Neben den Reformen habe der Euromaidan, der in der Ukraine als „Revolution der Würde“ in die Geschichtsbücher einging, vor allem zu einer Bewusstseinsveränderung geführt, so Roman Kotljarewski. Die Maidan-Bewegung sei von einem „Geist der Empathie“ getragen gewesen, sagt er. „Geist der Freundschaft“ sagt der Fotojournalist Alexey Furman dazu. Heute vermisse er ihn. Alle, auch Khrystyna Arkhytka, betonen die besondere Rolle der Zivilgesellschaft, die aus dem Maidan erwachsen sei und bis heute gesellschaftliche Reformen auf allen Ebenen vorantreibt. Ein langwieriger und von Rückschlägen gezeichneter Prozess. Einige der AktivistInnen von damals sitzen heute im Parlament als Abgeordnete, andere engagieren sich in NGOs, wieder andere sind in den Krieg in die Ostukraine gezogen. Nach dem Ende der Proteste vor drei Jahren ging es Arkhytka wie vielen der AktivistInnen – sie verfiel in eine Depression. Nur langsam fand die junge Frau in den Alltag zurück, begann ehrenamtlich und gemeinsam mit einer Psychologin Menschen zu betreuen, die wie sie selbst Familienmitglieder am Maidan verloren hatten. Dennoch bereut sie nicht, dass sie damals ihre Nächte am Maidan verbracht hat. „Es war das erste Mal, dass ich gefühlt habe: Das ist es. Das ist das Land, in dem ich leben will. Es war die beste Zeit meines Lebens.“

 

Der Euromaidan

Die Proteste des Euromaidan fordern über hundert Tote und versetzen Kiews Innenstadt in einen Ausnahmezustand. Sie dauern einen Winter lang an, vom 21. November 2013 bis zum 26. Februar 2014, und führen zum Sturz des Präsidenten Wiktor Janukowytsch