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Drei Wochen Auszeit vom Krieg

Das Projekt „Tschernobyl-Kinder“ von GLOBAL 2000 ermöglicht jungen Ukrainerinnen und Ukrainern einen Sommer in Österreich – fernab vom Kriegsgebiet. Ein Gespräch mit Projektleiter Christoph Otto über Zusammenhalt, Leidensfähigkeit und Luxus.
Interview: Katrin Rathmayr, Titelbild: Christian Teske

BLANK X: Im Rahmen des zehnten Jahrestages der Atomkatastrophe von Tschernobyl bereisten sie zum ersten Mal die Ukraine. welche Bilder blieben Ihnen von damals in Erinnerung?

Christoph Otto: Das war eine Grenzerfahrung, denn damals war die Ukraine Teil eines Wilden Ostens. Alles war düster, hat nach Schwefel gestunken und es gab weder Blumen noch Vogelgezwitscher. Ich kam in ein ostukrainisches Waisenhaus, die Kinder dort waren völlig verwahrlost. Man hatte ihnen an den Tagen zuvor jeweils eine Mahlzeit gestrichen, damit sie bei meinem Besuch ein Viergängemenü essen konnten – man wollte den Eindruck erwecken, dass alles in Ordnung sei. Im Osten gibt es ein starkes Dogma: Man redet nicht schlecht über seine Familie, seine Stadt, seinen Arbeitgeber und sein Land. In Wahrheit war überhaupt nichts in Ordnung.

Wie sieht die Situation 20 Jahre später aus?

Bis zum Krieg ging es in der Ostukraine stetig bergauf. Der Konflikt hat vieles verändert. Soziale Einrichtungen wurden aus den Gewinnen der staatlichen Betriebe finanziert. Als der brutale Kapitalismus in kürzester Zeit entstand, gab es praktisch keine staatlichen Einnahmen mehr, sondern nur noch wenige aus der neuen Privatwirtschaft. Das heißt, die Kinderheime, Kindergärten und Schulen standen plötzlich vollkommen ohne Finanzierung da. Auch die Betreuer haben teilweise ein dreiviertel Jahr völlig ohne Gehalt gelebt. Da wurden die Hilferufe sehr laut.

Beinahe ein ganzes Jahr ohne Gehalt auszukommen, ist bei uns kaum vorstellbar…

Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, wie das dort funktioniert. Die Ukrainer haben viele Verwandte, Bekannte und Freunde. Sie haben sich ganz spontan und uneigennützig gegenseitig geholfen und sich selbst versorgt. Die Menschen dieses Landes haben bis heute eine ungemeine Leidensfähigkeit. Ich habe oft gesehen, dass eine Mutter nichts in der Geldbörse hatte und in den Keller gegangen ist, um zu schauen, was da noch liegt. Dann fand sie einen Kohlkopf und hat gewusst, dass sie an dem Tag Kohl essen werden. Aber was es am nächsten Tag zu essen geben würde, wusste sie nicht.

Christoph Otto ist Leiter des Projekts „Tschernobyl-Kinder“, welches 1995 von GLOBAL 2000 ins Leben gerufen worden ist. (c) Stephan Wyckoff

GLOBAL 2000 ist eine Umweltschutzorganisation, das Projekt Tschernobyl-Kinder reicht aber weit über Umweltangelegenheiten hinaus. Warum?

Umweltschutz ist das Kerngebiet von GLOBAL 2000, aber wir kümmern uns auch um die Opfer. In der Ukraine war nicht nur die nukleare Verseuchung der Grund für Gesundheitsprobleme. Vor allem im Osten stehen viele Chemiefabriken. Massive Umweltverschmutzung steht bis heute an der Tagesordnung.

Wie setzt sich die ukrainische Politik für soziale Einrichtungen ein?

Von Seiten der Politik werden die Kinder administriert, aber nicht versorgt. Alle Internate haben sich medizinisch spezialisiert. Das Heim in Nowoaidar etwa ist zuständig für Herzkrankheiten. Zumindest theoretisch – dabei hatte das Internat nicht einmal ein EKG (Elektrokardiogramm). Das brauchen sie aber, um das Herz zu kontrollieren. Ein EKG haben sie dann von uns bekommen.

„Sie wissen, wie sie die Kinder behandeln müssen, aber sie können es nicht, weil die Mittel fehlen.“

Was macht die medizinische Versorgung der Kinder vor Ort so schwer?

Geld. Es mangelt nicht an Fachwissen. Das ist das Schlimme für die Ärzte. Sie wissen, wie sie die Kinder behandeln müssen, aber sie können es nicht, weil die Mittel fehlen. Den Kindern in einer Kindereinrichtung stehen 34 Cent im Monat für Gesundheitsmaßnahmen zur Verfügung – für Operationen, Therapien bis zu Medikamenten.

Theoretisch wird eine staatliche finanzielle Unterstützung angeboten, aber nur wenige Leute stellen Anträge. Warum verzichten Familien auf staatliche Beihilfen?

Es ist sehr zynisch, welches Bild der Staat nach außen zu vermitteln versucht. Man will den westlichen Erwartungen entsprechen. Der Staat stellt formal Unterstützung bereit, aber der Prozess ist so kompliziert, dass dieses Geld nicht wirklich fließt. Nur wer das Risiko eingeht, dass er aufgrund eines winzigen Fehlers alles zurückzahlen muss, kann es vielleicht schaffen. Aber die meisten Menschen resignieren.

Durch Spendengelder werden Kindern aus der Ostukraine jedes Jahr drei Wochen lang Ferien in Österreich ermöglicht. Wie kann man sich den Aufenthalt vorstellen?

Bei der ersten Aktion haben wir österreichische Familien gesucht, die bereit waren, Kinder für ein paar Wochen aufzunehmen. Das hat sich nicht bewährt, weil einerseits die Kinder den Luxus, den sie gesehen haben, nicht verstehen konnten. Das Haus, der große Fernseher und der volle Kühlschrank: Es war ein Schock für die Kinder. Manche haben begonnen, Joghurt unter dem Bett zu horten, damit sie das mit nach Hause nehmen konnten. Umgekehrt haben die Gastfamilien die Kinder auch nicht verstanden.

Was hat man geändert?

Seither trennen wir die Kinder als Gruppe nicht mehr und sie werden auch von ukrainischen Betreuern versorgt. So können sie die Erfahrungen in Österreich miteinander teilen und darüber sprechen. Wir erledigen die Bürokratie bis zur Ankunft in Wien und übergeben dann die Gruppen an Gemeinden oder Vereine. Die Kinder sind meistens zwischen sechs und 14 Jahre alt, wenn sie zu uns kommen. Bei den Älteren kam es zu Problemen – sie liefen weg und wollten nicht mehr in die Heimat zurückkehren. Denn Jugendliche nach der Pubertät erleben, genauso wie Erwachsene, den Unterschied zu ihrer Lebenswelt stärker. Die Kleinen freuen sich immer, nach Hause zu kommen. Egal wie das Zuhause aussieht.

Sie kennen sowohl die Situation vor Ort, als auch die Ferienlager in Österreich. Inwiefern unterscheidet sich das Verhalten der Kinder?

Es ist ein riesiger Unterschied. Nach den drei Wochen haben sich die Kinder verändert. Man muss sich vorstellen, aus welchen Lebensverhältnissen sie kommen. Viele von ihnen sind zum ersten Mal mit dem Zug in die große Stadt gefahren. Zum ersten Mal mit dem Flugzeug geflogen. Zum ersten Mal in einem völlig anderen Land, wo die Luft gut ist, man Tiere streicheln kann und tolles Essen bekommt. An eines kann ich mich noch genau erinnern: Als die Betreuerin einer der ersten Gruppen aus dem Flughafengebäude kam, rief sie plötzlich: „Kinder, hört mal – Vögel!“

Zur Person

Christoph Otto ist Leiter des Projekts „Tschernobyl-Kinder“, welches 1995 von GLOBAL 2000 ins Leben gerufen wurde, um den Opfern der atomaren Katastrophe zu helfen. Durch den Krieg hat sich die Situation der sozialen Einrichtungen verschlechtert, das Sozialprojekt hat seinen Tätigkeitsbereich deshalb ausgeweitet. GLOBAL 2000 ermöglicht jeden Sommer Kindern aus der Ostukraine Ferien in Österreich.