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Sowjetische Denkmäler in der Ukraine: Wenn Hammer und Sichel fallen

Die Sowjetunion ist Vergangenheit, doch die Ukraine sucht noch immer nach der eigenen Geschichte. Sichtbar wird das bei der Entfernung sowjetischer Denkmäler – etwa Lenin-Statuen.
Text: Stefanie Burger, Titelbild: Iris Dorfegger

Es ist der 8. Dezember 2013. Draußen schneit es leicht, die Dunkelheit hat sich bereits über Kiew gelegt. Am Ende des Taras-Schewtschenko-Boulevards, nahe des Bessarabska-Platzes versammeln sich immer mehr Menschen: Studierende, ältere Leute, sogar Kinder. Sie alle sind an diesem Abend zusammengekommen, um Wladimir Iljitsch Lenin fallen zu sehen. Die dreieinhalb Meter hohe Statue aus dunkelrotem Granit ist eines der letzten in der Ukraine verteilten Andenken an Lenin. „Es war wie eine große Feier“, schildert der Fotojournalist Petro Sadoroschny. Auf seinen Bildern werden die Szenen dieser Nacht zum Leben erweckt. Die Menge schwenkt ukrainische und europäische Flaggen, Menschen umarmen sich, während ein Demonstrant mit dem Vorschlaghammer auf den gefallenen Lenin einschlägt. Die damalige prorussische Regierung verurteilte das Vorgehen.

Zwischen Aufarbeitung und Verdrängung

Der Fall der Lenin-Statue in Kiew reiht sich in einen jahrelangen Prozess der Dekommunisierung in der Ukraine. Diese Vorgänge wurden teils, wie in dem Fall der Demontage der Kiewer Lenin-Statue 2013, von Demonstrantinnen und Demonstranten vorangetrieben. Manche dieser Aktionen stießen dabei auf heftige Kritik seitens der Opposition und der Regierung. Viele andere Denkmäler wurden durch die Behörden selbst zerstört. In der ersten Hälfte des Jahres 2015 trat Petro Poroschenkos Paket von vier „Dekommunisierungsgesetzen“ in Kraft. Die dort gelisteten Maßnahmen verbieten unter anderem jegliche sowjetischen Symbole im öffentlichen Raum und schreiben die Umbenennung von Straßen und Städten vor, die kommunistische Namen tragen. Wider Erwarten stießen die Neuerungen auf wenig Widerstand bei der Opposition. „Momentan gibt es so viele andere Probleme. Erinnerungspolitik ist nicht wirklich ein Konfliktpunkt“, erklärt Tatiana Schurschenko, Expertin für postsowjetische Identitätsfragen am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen.

Ein Aktivist zerstört unter dem Beifall der Menge eine Lenin-Statue in Kiew im Dezember 2013 – die Aktion war politisch umstritten (c) Petro Sadoroschny

Von diesen Namensänderungen waren nach Angaben des Ukrainischen Instituts der Nationalen Erinnerung bis zum 23. November 2015 941 Städte, Gemeinden und Dörfer betroffen. Die offiziell letzte Lenin-Statue fiel im November 2016 in der nordukrainischen Stadt Nowgorod-Siewierski. Auch wenn die Denkmäler von Lenin verschwunden sind, stolpert man doch noch vereinzelt über Erinnerungen an die Sowjetunion. Unweit der gefallenen Lenin-Statue erinnert am Kiewer Taras-Schewtschenko-Boulevard im November 2016 noch ein Denkmal an Nikolai Schtschors, einen Divisionskommandanten der Roten Armee. Es ist hinter einem Gerüst mit einer transparenten ukrainischen Flagge verborgen.

Eines der verbliebenen sowjetischen Monumente in Kiew, ein Denkmal zu Ehren von Nikolai Schtschors, ist hinter der Landesflagge verborgen (c) Iris Dorfegger

Der erste Gefallene

23 Jahre vor dem Fall der Lenin-Statue auf dem Taras-Schewtschenko-Boulevard versammelten sich im September 1990 in Lwiw unzählige Menschen vor dem Lenin-Denkmal bei der Oper. Die Szene ähnelt der in Kiew 2013. Auch damals war die Bevölkerung gekommen, um zu sehen, wie die Statue fällt. Es war das erste Lenin-Denkmal in der Ukraine und das zweite in der ehemaligen Sowjetunion, das entfernt wurde.

Heute zeugt nichts mehr von der Lenin-Statue, die bis 1990 vor der Oper in Lwiw stand (c) Paul Bernhard

Der Sturz des Lenin-Denkmals in Lwiw war Teil eines Prozesses, der vom polnischen Soziologen Mariusz Czepczynski als „postkommunistische Flurbereinigung“ bezeichnet wird. Sie hat neben den damaligen Veränderungen auch Bezüge zu dramatischen Ereignissen in der Vergangenheit. „Die Regierung der Sowjetunion verursachte einen Genozid, durch eine Hungersnot in der Ukraine, von 1932 bis 1933. Lenin ist das Symbol der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Menschen missbrauchte, um sich zu bereichern“, erklärt der Fotograf Sadoroschny die Beziehung der Ukrainerinnen und Ukrainer zu ihrer sowjetischen Vergangenheit.

Diese Flurbereinigung fand übrigens nicht in allen Teilen der Ukraine in den 90er Jahren mit gleichem Erfolg statt.

Geschichtsbücher umgeschrieben

Dieser äußere Prozess, mit dem sich die Ukrainerinnen und Ukrainer vom Erbe der Sowjetunion loslösten, verlief in mehreren Phasen: „Der Anfangspunkt war die Unabhängigkeit der Ukraine 1991. Damals wurden erste Schritte umgesetzt. Es gab zum Beispiel neue Geschichtsbücher für die Schule. Die zweite Phase trat nach der Orangen Revolution ein, als Juschtschenko Präsident wurde. Die dritte Phase wurde eingeleitet durch den Maidan und ist insbesondere durch den Sturz der Lenin-Denkmäler gekennzeichnet. Im Frühjahr 2015 wurden dann die Dekommunisierungsgesetze erlassen“, sagt die Wiener Expertin Schurschenko.

Die Ukraine hat seit dem Fall der ersten Lenin-Statue im Jahr 1990 mehrere Schritte der Dekommunisierung durchlebt. Dazu gehören etwa neue Gesetze und Umbenennungen

„Die Statuen von Lenin und anderen sowjetischen Führern waren wie eine Fessel zwischen der neuen Ukraine und ihrer dunklen Vergangenheit“, meint Petro Sadoroschny. Der Fall der Lenin-Statue in Kiew löste eine Kettenreaktion der Zerstörung von sowjetischen Denkmälern aus, die sich durch die gesamte Ukraine zog. Diese Vorfälle erhielten den Namen „Leninopad“, was auf Deutsch soviel wie „Leninfall“ bedeutet. In den Leninopad reiht sich so, zum Beispiel, die Entfernung der Lenin-Statue in Charkiw im September 2014 ein, der heftige Auseinandersetzungen zwischen proukrainischen und prorussischen Aktivistinnen und Aktivisten vorangingen. Der Abriss der Statue stellte in den Augen der Euromaidangegnerinnen und -gegner eine Aktion von „Nationalisten“ und „Bandera-Anhängern“ aus der Westukraine und Kiew dar, durch die „ihnen ihre Vergangenheit gestohlen wurde“, wie die Wissenschaftlerin Tatiana Schurschenko in einer ihrer Arbeiten über Charkiw erläutert.

Problematische Suche nach neuen Helden

Erinnerungskämpfe wie diese sind in der Ukraine keine Seltenheit. So kam es bei der Demontage von sowjetischen Denkmälern immer wieder zu Protesten. Besonders ambivalent ist dabei die Diskussion um das Andenken an Stepan Bandera. 2009 erklärte Juschtschenko den nationalistischen Freiheitskämpfer zum „Held der Ukraine“. Nach dem Amtsantritt von Janukowytsch erkannte dieser Bandera den posthum verliehenen Titel jedoch wieder ab.

Darin spiegeln sich die beiden gegenteiligen geschichtlichen Bilder von Bandera wider, die in der Ukraine vorherrschen. Im Westen wird Bandera als Volksheld und Widerstandskämpfer gefeiert, im Osten hingegen gilt er als Kriegsverbrecher. Trotzdem sei die Ukraine nicht so einfach in einen prorussischen Osten und in einen pro-europäischen Westen zu teilen, so der Historiker Jaroslaw Hrytsak. „Es gibt natürlich regionale Unterschiede, auch was politische Sympathien betrifft. Ich bin aber dagegen, diese Unterschiede in ein Ost-West-Schema zu pressen“, meint auch Tatiana Schurschenko. Historiker Hrytsak erklärt zu diesem Thema, dass es starke Gegensätze im Denken der Bürgerinnen und Bürger selbst gebe.

Diese Zerrissenheit findet sich ebenfalls in einem der vier von Poroschenko ausgerufenen Gesetze. Es legt die „Verewigung des Sieges über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg“ fest. Dadurch wird die Ukraine sowohl als Opfer des Nationalsozialismus, als auch der Sowjetunion dargestellt. Poroschenkos neue Gesetze stufen Bandera zum zweiten Mal als Nationalhelden ein.

Doch nicht nur bei der Suche nach neuen Helden gibt es kritische Stimmen. Hrytsak fordert im ukrainischen Magazin „Neue Zeit“ statt den Verboten von sowjetischen Überbleibseln vielmehr radikale Reformen. Für ihn stellt die Überwindung der Vergangenheit einen wichtigeren Schritt dar als die Beseitigung ihrer oberflächlichen Erinnerungen. Dagegen meint Petro Sadoroschny: „Das Entfernen von Lenin-Denkmälern löst zwar nicht die Probleme der Ukraine, aber dennoch stellt es einen Schritt in Richtung Demokratie dar.

Eine Storymap von Stefanie Burger und Sarah Seifzenecker über die Umbenennung von ukrainischen Städten im Zuge der Dekommunisierung findet ihr unter https://uploads.knightlab.com/storymapjs/d10c623e0a46461679277c4fa6dd805c/umbennnung/draft.html.