Etwa 360 000 Menschen wurden seit dem Atomunfall aus dem Gebiet um Tschernobyl evakuiert. 17 000 kommen jedes Jahr zurück. Zumindest für einen Tag. Denn der Katastrophentourismus floriert. Ein Besuch in der Sperrzone.
Text: Eva Walisch, Fotos: Paul Bernhard, Daniel Kindler, Veronika Sattlecker
Auf der Straße nach Tschernobyl liegt der erste Schnee des Winters, ein eisiger Wind fegt die Flocken durch die Bäume. Schon lange pflegt niemand mehr den verwilderten Wald, Stämme ragen in die zerborstenen Fenster von einzelnen Häusern am Straßenrand. Die Straßen sind leer, nur vor dem Ortsschild von Tschernobyl posiert eine Gruppe junger Menschen. Sie formieren sich für ein Gruppenfoto, eine Erinnerung an den Ausflug ins Nuklearsperrgebiet. „Say cancer!“ ruft ihr Guide mit der Kamera in der Hand und die Gruppe lacht ausgelassen. Vor 30 Jahren geschah im Atomkraftwerk von Tschernobyl der größte Atomunfall der Menschheit. Knapp 15 Jahre später wurde daraus auch ein Business. Für ungefähr 100 US-Dollar bieten Agenturen Ausflüge in die militärische Sperrzone an, 30 Kilometer um das ehemalige Atomkraftwerk. Sogar über Nacht kann man in einem Hotel in Tschernobyl bleiben. Bis zu 17 000 TouristInnen kommen laut den Agenturen jedes Jahr hierher, um durch die Trümmer der Katastrophe im ehemaligen Vorzeigekraftwerk der Sowjetunion zu stapfen.
„Ich verstehe, dass ich mein Leben gefährde“
Wir, eine Gruppe von knapp 20 Leuten, werden von einem kleinen Bus in der Kiewer Innenstadt abgeholt. Die Motorhaube ist mit einem Strahlenwarnzeichen beklebt. Auch sonst lässt sich ab jetzt über den guten Geschmack streiten. Etwas weniger als zwei Stunden dauert die Fahrt von Kiew nach Tschernobyl. Um die Zeit zu überbrücken, laufen auf einem Fernseher Dokumentationen über den Unfall, ein Trailer zu einem Horrorfilm über Tschernobyl-Zombies und sogar Musikvideos. Dem Sänger von Crucifix ist die Hose bis zu den Knien gerutscht, während er in verfallenen Gebäuden im Sperrgebiet vor der Kamera tänzelt, begleitet von einem Gitarristen mit Gasmaske. Wer in die 30-Kilometer-Sperrzone will, muss zuerst durch den Checkpoint des Militärs. Ein Polizist steigt gemächlich in den Bus und kontrolliert die Reisepässe. Ein Blatt Papier wird durch die Sitzreihen gereicht und unterschrieben: „Ich verstehe, dass ich mit dem Betreten der Sperrzone mein Leben und meine Gesundheit gefährde.” Der Bus hält und ein junger Hund steckt seine Nase ins Innere, als sich die Schiebetür öffnet. Wir sollen diese Hunde von Tschernobyl nicht berühren, empfiehlt der Guide, denn die Tiere sind verstrahlt. „Die Hunde versuchen sich in der Nähe von Menschen aufzuhalten, damit sie nicht von den Wölfen gefressen werden“, erklärt Sergej Teslenko. „Die Natur und Tierwelt gedeihen hier nämlich bestens ohne den Menschen.“ Er streift die Handschuhe ab und zündet sich eine Zigarette an – nur Minuten, nachdem er uns eingebläut hat, nicht in der Sperrzone zu rauchen. Eigentlich hat der 25-Jährige Literatur studiert, doch seit vier Jahren führt er TouristInnen durch das Sperrgebiet. Denn Sergej kennt die Gegend und braucht das Geld. Er wurde in einem Dorf nur 20 Kilometer von Tschernobyl entfernt geboren. „Ich bin erst vor ein paar Jahren zurückgekommen und habe unser Haus gesucht, aber ich konnte es nicht finden. So sehr war alles mit Bäumen verwachsen“, erzählt er. Als Sergej vier Jahre alt war, wurden er und seine Familie umgesiedelt, erst neun Jahre nach dem Unfall.
Offiziell nicht wegen der erhöhten radioaktiven Strahlung, sondern aufgrund fehlender Infrastruktur, denn die Schulen und Krankenhäuser im Umkreis des Dorfes waren geschlossen worden. Auch im Kindergarten von Kopatschi spielen schon seit 30 Jahren keine Kinder mehr. Das Dorf liegt in der nächsten 10-KilometerSperrzone rund um das Atomkraftwerk. Der Kindergarten ist das einzige Gebäude, das von Kopatschi übrig geblieben ist. Die Metallgestelle der Kinderbetten stehen noch aufgereiht an der Wand, die Tapete hängt in Fetzen herunter. Kleine Schuhe, Puppen mit schmutzigen Gesichtern und aufgeschlagene Bücher liegen wild durcheinander. Sowjetische Propagandaplakate hängen an den Wänden, Glassplitter knirschen unter den Schuhen. Die Szenerie wirkt befremdlich, fast unecht, wie eine Filmkulisse. Sergej versichert, nichts sei vor Ort bewusst inszeniert. „Aber oft kommen Fotografen, die dann Gegenstände so hinstellen, damit sie die besten Fotos bekommen. Die lassen wir dann auch so.“ Trotzdem bleibt das Gefühl, dass hier alles doch etwas zu fotogen ist. Aber vielleicht ist der Gedanke auch zu schwer zu ertragen, dass viele der Kinder, die mit den noch aufeinander gesteckten Bausteinen im Regal gespielt haben, heute wohl schon tot sind.
Die Geister einer Stadt
Ein Mädchen im knallroten Badeanzug und mit Flossen an den Füßen köpfelt ins Schwimmbecken. Das Wasser spritzt über den Beckenrand und der Kinderkörper gleitet durch das Wasser, immer schneller, die Bahn entlang. Menschen stehen am Rand und beobachten das Kind. Es ist das
Videomaterial von einem Wettkampf in der Schwimmhalle Azure in Prypjat, aufgenommen vor dem Atomunfall.
Heute ist kein Wasser mehr im Schwimmbecken, Schutt bedeckt stattdessen den Boden. Ein kleiner Gymnastikschuh liegt noch zwischen den Trümmern. Prypjat ist zu einer Geisterstadt geworden. Nur einmal, knapp neun Stunden nach dem Unfall, durften die evakuierten Menschen noch ein letztes Mal zurück in ihre Häuser, um das Notwendigste zu holen. Die große Uhr in der Schwimmhalle ist stehengeblieben, das Ziffernblatt zeigt 1 Uhr 23. Die Minute, in der am 26. April 1986 der Reaktor 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl, nur drei Kilometer entfernt von Prypjat, explodierte. Der Keller des Krankenhauses in Prypjat, wo Feuerwehrleute nach dem Löschen des Brandes ihre extrem verstrahlte Kleidung ablegten, ist heute einer der radioaktivsten Orte der Welt. Die offiziellen Touren meiden solche „Hotspots“, Sergej war aber trotzdem schon dort. „Der Geigerzähler zeigte 800 Mikrosievert an. Der Normalwert liegt bei 0,2. Als ich das sah, bin ich nur mehr gelaufen.“ Seit vier Jahren ist er fast jeden Tag hier, um TouristInnen mit ihren klackernden Geigerzählern durch die Zone zu lotsen. Angst vor gesundheitlichen Folgen hat er nicht: „Wenn, dann bemerke ich das sowieso erst in 20 oder 30 Jahren.“ Viel mehr als die Strahlenbelastung beschäftigte ihn anfangs die emotionale Last. „Die Menschen, die hier lebten, haben alles verloren, innerhalb nur eines Tages. Das ist in den ersten Wochen schon ein komisches Gefühl. Aber mittlerweile ist es nur ein ganz normaler Arbeitsplatz für mich.“ So wie für 7 000 andere Menschen auch, die in der Zone arbeiten. Darunter sind ungefähr 700 SicherheitsmitarbeiterInnen und 200 WissenschafterInnen. Aber auch das Personal des Hotels und des Postbüros in Tschernobyl, sowie die Straßenreinigung, arbeiten in der Zone. In Hochhäusern in Tschernobyl sind jeweils zwei oder drei Leute in Wohnungen untergebracht, die sich im Schichtbetrieb abwechseln. „Es ist wie jedes andere Dorf“, sagt Sergej. Bis auf die Anweisung der ukrainischen Regierung, dass hier niemand mehr als 15 Tage am Stück verbringen darf. Diese Regelung gilt für Sergej nicht.
Instagram-Fotos für sieben Mikrosievert
Schlimm findet Sergej das nicht. Er gehe doch sowieso regelmäßig für Untersuchungen zum Arzt. Außerdem führt er die Touristengruppen gerne herum. „Meist sind es junge Menschen, die ein Abenteuer erleben wollen“, sagt er. Stas ist einer von ihnen. Der weißblonde, junge Mann aus Singapur sitzt im Hotel von Tschernobyl und löffelt die letzten Reste Kartoffelsuppe aus seinem Teller. Das Mittagessen ist in den Touren inkludiert, wird jedoch – laut VeranstalterInnen – von außerhalb der Zone geliefert. Stas mag den sogenannten „Dark Tourism“: „Es ist so bizarr hier, wie eine eingefrorene Momentaufnahme aus der sowjetischen Zeit!“ Eine Kellnerin in einer traditionell bestickten Bluse trägt dampfende Suppe zu den Tischen. Auch Sergej setzt sich, um etwas zu essen. Viele TouristInnen seien sich der Gefahren in der Zone nicht bewusst, erzählt er. „Manche wollen selbständig durch die Stadt spazieren, das ist aber streng verboten.“ Schon stundenlang hätten er und seine KollegInnen im Gebiet nach TouristInnen suchen müssen. Auch würden manche verbotenerweise versuchen, Gegenstände mit nach Hause zu schmuggeln.
Ein weiteres Problem sind Leute, die illegal über den Wald in das Sperrgebiet kommen. Die meist jungen Männer nennen sich nach einem Computerspiel „Stalker” und schlafen in den Wäldern oder in verlassenen Gebäuden. Es sei sehr gefährlich, sich ohne Guide in der Zone aufzuhalten, mahnt Sergej. „Wegen der Strahlung, aber auch einfach wegen der Baufälligkeit der Gebäude.“ Irgendwann könnten wieder Leute in der 30-Kilometer-Zone leben, glaubt Sergej. In der Zehn-Kilometer-Zone wird das in diesem Jahrhundert wohl nicht mehr passieren. Sie ist zu verstrahlt. Als wir das Sperrgebiet verlassen, müssen wir durch die Strahlenkontrolle. Wir werden eilig durchgeschleust und aufgefordert die Hände an die vorgesehenen Messsensoren zu halten. Die historisch anmutenden Geräte sollen verraten, ob wir verstrahlt sind. Wir sind alle „clean“ und verlassen die Sperrzone mit neuen Instagram-Fotos, einem mulmigen Gefühl und zirka sieben Mikrosievert Strahlung extra. So viel wie auf einem Transatlantikflug, sagt Sergej. Alles ungefährlich, sagt die ukrainische Regierung. Dass die Agenturen im Auftrag der Regierung arbeiten, erfahren wir erst zufällig am Weg nach Hause.
TschernobylAm 26. April 1986 explodierte in Folge eines Sicherheitstests im Atomkraftwerk Tschernobyl der Reaktor 4. Heute zählt die Umweltorganisation Pure Earth die Stadt zu den zehn Orten mit der größten Umweltverschmutzung weltweit. Von den ehemals 14 000 EinwohnerInnen sind etwa 700 geblieben oder zurückgekehrt. Die anderen BewohnerInnen verließen die Region innerhalb von 36 Stunden nach dem Nuklearunfall. Tschernobyl liegt in der militärischen Sperrzone um das ehemalige Kernkraftwerk. |