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Altes System in neuer Uniform

Die ukrainische Polizei „Milizija“ war für Korruption und Willkür berüchtigt. Nach dem Euromaidan wurde sie durch eine neue Streifenpolizei ersetzt. Doch nun treten die Reformerinnen und Reformer zurück
Text: Veronika Sattlecker

Wladyslaw Wlasiuk erzählt von früheren Zeiten. Immer wieder runzelt er bei seinen Erinnerungen die Stirn. In dem Gespräch geht es um die Verkehrspolizei, die Autos ohne Grund anhielt, und um Polizistinnen und Polizisten, die mit Gaunergrinsen die Hand ausstreckten. Strafen wurden beliebig verhängt, so der 27-jährige, und wenn jemand Widerstand leistete, noch verschärft. Wlasiuk war der ehemalige Stabschef der Kiewer Polizei. Er sagt: „Die erste Annahme war immer, dass jemand schuldig war. Und dann konnte er Bestechungsgeld zahlen.“

Korruption in allen Bereichen

Die Ukraine, der größte Staat Europas, kämpft in vielen Bereichen mit Korruption. NGOs unterscheiden zwischen Korruption von Politikerinnen und Politikern, administrativer Korruption und der Alltagskorruption. Dazu zählen neben Bestechung in Schulen, Universitäten und Krankenhäusern auch Gelder, die die korrupte Verkehrspolizei schwarz auf der Straße einnahm. Nach dem Euromaidan 2014 wurde die Kiewer Verkehrspolizei aufgelöst und die Streifenpolizei komplett neu aufgebaut. Die Städte Charkiw, Donezk, Lwiw und Odessa folgten. Treiberin der Reform war, anders als von vielen erwartet, keine Vertraute des Präsidenten. Es war Eka Sguladse, die Stellvertreterin des ukrainischen Innenministers. Sie hatte bereits in Georgien die Polizei reformiert und wollte nun auch in der Ukraine das „Herzstück“ der Korruption, die Verkehrspolizei, ersetzen. Ihr Ziel war ein Kulturwechsel, ein erster Ansatz, um etwas Grundlegendes zu verändern und ein Umdenken zu erreichen. Gesucht wurden junge, dynamische Ukrainerinnen und Ukrainer, die bisher keine Erfahrung bei der Polizei hatten.

Die alte Polizei geht
Die alte Polizei geht: 2014 wurde die Verkehrspolizei Milizija ersetzt. Sie war für Korruption und Bestechung berüchtigt (c)EMPR

Einer von ihnen war Wlasiuk, der nach dem Jurastudium eine beratende Rolle bei der Polizei angenommen hatte und schnell zum Stabschef der Kiewer Polizei aufgestiegen war. Nach den ersten Tests wählte der 27-Jährige gemeinsam mit Sguladse die neuen Polizistinnen und Polizisten aus. „Das war ein schneller Prozess. Man wurde leicht befördert. Diese Leute waren sehr gut. In der Nationalpolizei gibt es kaum so junge und schlaue Leute in hohen Rängen.“ Die Ausbildung dauerte statt der früheren vier Jahre nur noch elf Monate und mit einem dreimal höheren Gehalt als zuvor waren Jobs bei der Streifenpolizei sehr begehrt.

Selfies mit den Beamten

Polizistinnen - beliebt bei der Bevölkerung
Die neuen Polizeibeamten wurden durch Fotos und den freundlichen Umgang mit der ukrainsichen Bevölkerung international bekannt (c)EMPR

Nach der Vereidigung der neuen Streifenpolizei im Juli 2015 gingen die Bilder der Polizistinnen und Polizisten um die Welt. Ukrainerinnen und Ukrainer posteten Selfies mit den neuen Beamtinnen und Beamten mit in Amerika gefertigten Uniformen vor Autos aus Japan. Umfragen zufolge stieg das Vertrauen in die Polizei. Bald jedoch kritisierten NGOs, dass die Neuerungen nur kosmetische Veränderungen seien. Sie beobachteten, dass Prozesse an der Oberfläche zwar erneuert wurden, das System jedoch das Alte blieb.

Das bestätigt auch Dmytro Potechin, Aktivist und politischer Berater aus Kiew. „Die Streifenpolizei ist ein Erfolg. Das Problem dabei ist, dass sie bloß ein Teil des ganzen Gesetzesvollzugssystems ist“, sagt Potechin. „Wenn Sie heute verhaftet werden, ist Ihr Weg wie eine Zeitreise. Sie treffen zuerst auf nette, neu ausgebildete Leute in neuen Uniformen und werden in einem tollen neuen Auto transportiert. Dann finden Sie sich in einer sowjetischen Zelle wieder, unter sowjetischer Bürokratie.“

Exodus der Reformer

Auch die Nationalpolizei, deren Aufgaben weitreichender sind als die der Streifenbeamtinnen und -beamten, sollte reformiert werden. Die Idee war es, alle PolizeibeamtInnen zu überprüfen. Ein Großteil der alten BeamtInnen sollte ersetzt werden. Die Reformerinnen und Reformer gingen mit hohen Erwartungen in den Prozess. Nach einigen Monaten merkten sie jedoch, dass die Umsetzung schwieriger war als erwartet. Besonders von politischer Seite und der Justiz, aber auch aus der Nationalpolizei selbst, gab es großen Widerstand. „Wir haben versagt. Dieser Prozess lief völlig schief“, sagt Wlasiuk.

Der Misserfolg hatte Folgen. Reformerin Sguladse und Stabschef Wlasiuk traten von ihren Posten zurück und im letzten November kündigte Katija Dekanoijdse, die Chefin der Nationalpolizei. Wlasiuk sieht den Rücktritt der letzten großen Polizeireformerin als das Ende einer guten, aber komplizierten Periode: „Wir wissen nicht, was als Nächstes passieren wird.“ Solange sich Politik und Justiz gegen die Reformen stellen, meint er, gäbe es keine Hoffnung. Die Korruption scheint auch nach dem Euromaidan in allen Schichten der Gesellschaft fest verankert. Noch immer kämpfen die alten Eliten in den Wachstuben, Büros und Universitäten mit allen Mitteln gegen Reformen.

v.l.n.r. Reformerin Eka Sguladse, Innenminister Arsen Awakow und Chef der Kiewer Streifenpolizei Oleksandr Fatsewych bei einer Angelobung. Die Ausbildung der Streifenpolizei dauert heute nur mehr elf Monate statt der früheren vier Jahre (c)EMPR

Rückschläge als Motivation

Doch einige Entwicklungen lassen hoffen: In einem Bürogebäude, in der Olhynska Straße, nur 800 Meter vom Maidan entfernt, arbeiten täglich 14 Aktivistinnen und Aktivisten mit 350 freiwilligen Expertinnen und Experten zusammen. An Schreibtischen vor einer großen Fensterfront, zwischen Ledersofas und in Gold gerahmten Urkunden, entwerfen Mitarbeitende der NGO „ReanimationPackage of Reforms” (RPR) seit dem Euromaidan Kommunikationskampagnen und Reformpläne. RPR vereint 68 verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen und kommuniziert Erfolge der Reform nach außen. Denn, so Olena Haluschka von RPR, „das größte Problem, das die Ukraine mit ihren Reformen hat, ist, dass viel gemacht wird, aber die Erfolge unzureichend in der Öffentlichkeit bekannt sind.“ Im letzten Jahr wurde etwa ein Anti-Korruptionsbüro aufgebaut und Medien müssen nun offenlegen, wie sie finanziert werden. Zu den Rückschlägen sagt Haluschka: „Wir sehen, dass alte Eliten versuchen, unsere Reformen zu stoppen. Das ist für uns ein Beweis, dass wir auf dem richtigen Weg sind und konkrete Fortschritte erzielen. Der bekannteste Fall sind wohl gerade die e-Declarations.“

Fehlender Datenschutz

Im September 2016 wurde ein elektronisches System gelauncht, in das ukrainische Beamtinnen und Beamten ihre Vermögenserklärungen einreichen müssen. Diese Offenlegung des Besitzes soll die Korruption in politischen Kreisen vermindern. Im ersten Durchgang haben neben dem Präsidenten auch hohe BeamtInnen die e-Declarations ausgefüllt, und ab April ist das System für alle ParlamentarierInnen geöffnet. Bei RPR ist man begeistert. „Die e-Declarations sind eine völlig neue Geschichte. Es gab sie früher schon in Papierform, aber das hat nicht gut funktioniert.“ RPR hofft nun auf aktive Bürgerinnen und Bürger, die die Erklärungen analysieren und verdächtige Fälle an das Anti-Korruptions-Büro weiterleiten.

Was noch fehlt, ist ein unabhängiges Gericht, das über diese Fälle entscheidet. Noch ist die Gegenwehr in der Justiz sehr groß. Der Aktivist Potechin weist auf eine weitere Schwachstelle hin: „Die e-Declarations helfen dabei, Korruption zu bekämpfen. Ich weiß aber, dass mehrere Millionen Euro in das System investiert wurden. Trotzdem sieht es so aus, als hätten es bloß ein paar Studenten entwickelt. Es wurde schon mehrmals gehackt.“ Ob diese Millionen tatsächlich für das Projekt verwendet wurden oder versickert sind, bleibt offen.

Wlasiuk und Haluschka
Ex-Polizeichef Wladyslaw Wlasiuk und Aktivistin Olena Haluschka engagierten sich bei der Polizeireform, heute arbeiten sie in der selben NGO (c)Paul Bernhard

Kein Schritt zurück

NGOs, Aktivistinnen und Aktivisten geben dennoch nicht auf. Sie glauben, den Schlüssel zum Korruptionsproblem zu kennen: „Wir haben im vergangenen Jahr viel erreicht und das hängt mit e-Government und e-Services zusammen.“ Wenn – wie im Falle elektronischer Behördengänge – kein direkter Kontakt zu Beamtinnen und Beamten besteht, ist es schwieriger, Bestechungsgeld zu zahlen. Vielleicht werden die Reformen der Ukraine ja doch eine „Erfolgsgeschichte für die Nation“, wie Dekanoijdse ein Jahr vor ihrem Rücktritt versprach. Wlasiuk meint dazu: „Es ist wichtig, dass wir weitermachen. Vielleicht können wir etwas Neues implementieren. Auf keinen Fall aber dürfen wir einen Rückschritt machen.”

Gesichter der neuen Streifenpolizei (c)EMPR
Die neuen Gesichter der Streifenpolizei (c)EMPR

Gesucht: Streifenpolizei.

Die Gründung der Streifenpolizei im Jahr 2014 sollte ein erster Schritt gegen die Korruption in der Ukraine sein. Mit einem Durchschnittsalter von 25 Jahren und 25 Prozent Frauenanteil gilt sie als jung, dynamisch und modern. Die neuen Uniformen aus Amerika, Autos aus Japan und ein eigener TV-Kanal verhalfen zu Popularität in der Bevölkerung. Doch die Reform war teuer: PolizistInnen bekommen heute fünfmal mehr Lohn als vor drei Jahren. Und es sind immer noch zehn Prozent der Beamtinnen und Beamten aus der früheren Milizija angestellt.