Absolute Schönheit, der Frust der vergessenen Vergangenheit, ein bleibendes Trauma, die Zeit nach Tschernobyl und ein Land ohne Identität. Über all das schreibt Oksana Sabuschko in “Planet Wermut”.
Eine Buchrezension von Anna Eberharter
Sie schreibt kritisch, philosophisch, abstrakt und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund: Oksana Sabuschko, eine der bekanntesten ukrainischen Autorinnen. In ihrem Buch „Planet Wermut“, einer Sammlung aus Essays, startet Sabuschko den Versuch ihre Heimat, die Hungersnot Holodomor in den 1930er Jahren und vor allem auch die Zeit nach Tschernobyl zu erklären. Oksana Sabuschko fasst Unbegreifbares in Worte und versucht aus der vergessenen Vergangenheit ihrer Heimat die Identität der Ukraine zu erahnen.
„Die Mauer des Schweigens zu durchbrechen ist einfacher, als einen Berg an Lügen abzutragen. Und je höher dieser Berg wird, desto moralischer wird das Schweigen. Ich glaube, dass auch aus diesem Grund in der Ukraine selbst, außer reinen Dokumentationen, das Thema Čornobyl‘ bisher relativ wenig bearbeitet wurde, wesentlich weniger als im Westen – und jene, die etwas sagen könnten, sagen sollten (darunter auch ich) hielt und hält eine Art Psychohygiene vor der Čornobyl‘-Konjunktur zurück: die Furcht, in den lärmenden und gekünstelten Chor der Konjunkturritter zu geraten, die stets am Schauplatz von Katastrophen auftauchen. Das Schweigen war ehrenvoller – irgendwie anständiger … oder so …“
– aus: Planet Wermut: Oleksandr Dovženko – Andrej Tarkovskij – Lars von Trier, oder Der Diskurs des Horrors –
Der Planet nach Tschernobyl
Oksana Sabuschko wurde am 19. September 1960 in Luzk, einer Stadt in der nordwestlichen Ukraine, geboren. Im April 1986 lebte Sabuschko, damals 25 Jahre alt, in Kiew. Dort studierte sie am Philosophischen Institut der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften. Ihr erster Roman „Feldstudien über ukrainischen Sex“ wurde 1996 veröffentlicht. Ihre Bücher werden international gelesen und wurden in mehreren Sprachen übersetzt. Sabuschko gilt als eine der bekanntesten Autorinnen der postsowjetischen Ukraine. Tschernobyl, ukrainisch Čornobyl‘, bedeutet übersetzt Wermut, und gilt als Anfang vom Ende der Sowjetunion. In ihrem Essay „Planet Wermut: Oleksandr Dovženko – Andrej Tarkovskij – Lars von Trier, oder Der Diskurs des Horrors“ klärt sie über die vielen falschen Eindrücke auf, die durch Medien entstanden sind, schildert aber auch, wie sie den 26. April 1986 und die Zeit danach erlebt hat.
„Fragt man mich nach den Eindrücken absoluter Schönheit, an die ich mich erinnere, nach jener unmenschlichen Schönheit, von der Romantiker träumen und von der Rilke sagte, »das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen«, so würde ich an erster Stelle nicht den Mailänder Dom oder das Taj Mahal nennen, auch nicht die Aussicht von der Seilbahn herab auf ein Alpental oder den Sonnenaufgang durch ein Flugzeugfenster über dem Atlantik, sondern diese wenigen Minuten radioaktiven Schneefalls auf dem Kiewer Siegesplatz am 26. April 1986. Nie, weder früher noch später, habe ich so einen Himmel gesehen, und ich würde viel dafür geben, ihn nie wieder sehen zu müssen.“
– aus: Planet Wermut: Oleksandr Dovženko – Andrej Tarkovskij – Lars von Trier, oder Der Diskurs des Horrors –

Konflikt zwischen Zukunft und Vergangenheit
Oksana Sabuschko stellt in „Planet Wermut“ wahrscheinlich genauso viele Fragen, wie sie beantwortet. Wer trägt die Schuld am „33er Jahr“? Ein Trauma, das sich mehr in das ukrainische Gedächtnis gebrannt hat als der Zweite Weltkrieg. Das Jahr 1933, im offiziellem Sprachgebrauch heißt es Holodomor, war eine von Menschen herbeigeführte Hungerkatastrophe, die mehreren Millionen Menschen das Leben kostete. Braucht man überhaupt einen Schuldigen um dieses Trauma zu verarbeiten? Und wie kann ein Land eine Identität entwickeln, wenn die Vergangenheit vergessen und verdrängt wird?
„Der ihr [Zivilisation] angeborene Konflikt mit der Zeit – mit der Vergangenheit und der Zukunft. Die Notwendigkeit der »Vergangenheitsbewältigung«, oder die Vergangenheit (das Leiden) im Interesse der »lichten Zukunft« wie einen Waggon vom Zug der Zeit abzukoppeln – das ist nur eine der Formen, in denen der Konflikt hervorbricht. […] Wir sitzen noch immer in der gleichen Zeitfalle, ohne zu bemerken, dass das Abkoppeln der Waggons symmetrisch vor sich geht – von beiden Enden her zugleich.
Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?
Die Zukunft von der Vergangenheit befreien?
Das einzig neue wird wohl das Fragezeichen am Ende sein. In den 1960er Jahren stand da garantiert noch ein Ausrufezeichen. Ich schreibe dies hier aus Dankbarkeit gegenüber dem Fragezeichen. In ihm blinkt Hoffnung.“
– aus: Zimmer 101 oder Die Suche nach dem Ausgang –
Philosophisch-kritische Prosa: „Planet Wermut“
Oksana Sabuschko fordert Leserinnen und Leser durch abstrakte Formulierungen und philosophische Gedankenspiele dazu auf, kritisch nachzudenken und das bestehende Bild der Ukraine zu hinterfragen. „Planet Wermut“ ist bestimmt kein Buch für ein schnelles Lesevergnügen oder eine leichte Abendlektüre. Genau das will Sabuschko den Leserinnen und Lesern auch nicht geben. Sie polarisiert und kritisiert. Sie springt in ihren Gedankenspielen von der Vergangenheit in die Zukunft und wieder zurück. „Planet Wermut“ ist sehr empfehlenswert für Alltagsphilosophen und Literaturliebhaber, die den Mut haben mit Oksana Sabuschko die Ukraine neu zu entdecken.